Blind ist eine wilde Mischung aus Reddit, Linkedin und Slack.

Foto: Team Blind

Ein Teil der Informationen, die aktuell täglich aus dem Inneren von Twitter an die Öffentlichkeit dringen, stammt aus einem in Europa kaum bekannten sozialen Netzwerk: "Blind", auch bekannt als "Team Blind". Die von einem koreanischen Start-up entwickelte App spielte bereits bei mehreren Skandalen im Zusammenhang mit US-Tech-Unternehmen eine Rolle und hat sich eine eigene Nische geschaffen.

Die Zielgruppe von Blind sind nach eigenen Angaben "verifizierte Fachleute", die sich über berufsrelevante Themen austauschen wollen. Das alleine wäre nichts Neues, das Alleinstellungsmerkmal besteht jedoch darin, dass der Austausch anonym erfolgt.

Blind entspricht einer gemeinsamen Kaffeeküche, in der sich Angestellte von unzähligen Unternehmen über ihre Arbeit unterhalten können, ohne sich allzu viele Gedanken über negative Konsequenzen für die eigene Karriere machen zu müssen. Vor allem in Branchen mit hohem Homeoffice-Anteil werden offenbar virtuelle Alternativen zu diesen im englischen Sprachraum als "water-cooler talk" bezeichneten Gesprächen gebraucht – die unternehmenseigenen Kommunikationstools sind dafür aus offensichtlichen Gründen nicht das Mittel der Wahl.

Vor allem im Silicon Valley verbreitet

Auf Blind sind vor allem die Belegschaften der Tech-Konzerne des kalifornischen Silicon Valley vertreten. Bei "MAAMA" – Blind-Slang für die Platzhirsche Meta, Amazon, Alphabet, Microsoft und Apple – wird die App teilweise sogar von einer Mehrheit genutzt: 64.000 Meta-Angestellte verzeichnet Blind etwa nach Informationen von "Business Insider", mehr als drei Viertel der gesamten Belegschaft des Facebook-Konzerns.

Missstände am Arbeitsplatz und Kündigungen sind beliebte Themen auf Blind.
Foto: STANDARD/Screenshot

Die Arbeitgeber werden in der App neben den selbstgewählten Nutzernamen angezeigt, wodurch schnell ersichtlich wird, ob man es wirklich mit Insidern zu tun hat. Die Verifizierung erfolgt über die Mailadresse des Arbeitgebers und muss regelmäßig erneuert werden. Bei Angestellten von Unternehmen mit mehr als 30 registrierten Blind-Usern eröffnet die Verifizierung auch den Zugang zu eigenen internen Kanälen.

Kündigungen, Gehälter, Missstände: Worüber auf Blind geredet wird

Konträr zur US-amerikanischen Arbeitskultur wird auf Blind offen über Gehälter gesprochen. Das Kürzel "TC", das für "Total Compensation" steht, findet sich in vielen Beiträgen neben einer Geldsumme und einer Zahl, die angibt, wie viel Erfahrung ein User in seinem Berufsfeld hat. Eine wichtige Orientierungshilfe für Bewerbungsgespräche und Gehaltsverhandlungen – gut für Arbeitnehmer, potenziell weniger gut für Unternehmen.

Noch schlechter für Unternehmen sind andere Themen, die auf Blind die Runde machen – etwa Vorwürfe sexueller Belästigung und Diskriminierung. Der US-Taxidienst Uber blockierte Blind 2017 in seinen internen WLAN-Netzwerken, nachdem dort über derartige Vorwürfe einer Mitarbeiterin diskutiert wurde. Diese Strategie scheiterte allerdings grandios: Nach Angaben von Blind gegenüber "Business Insider" verdreifachte sich in weiterer Folge die Aktivität von Uber-Angestellten auf der App.

Im Licht diverser Erdbeben in der Tech-Branche dominiert derzeit aber vor allem ein Thema die Blind-Community: Kündigungen. Die angekündigten Massenentlassungen beim Facebook-Konzern Meta führten zu mehr als 7.000 Neuanmeldungen von Meta-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeitern innerhalb von zwei Wochen.

Auch hier reagierte der Arbeitgeber nervös: Meta-CTO Andrew Bosworth ließ sich nach Informationen von "Business Insider" kürzlich in einer Ansprache an Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über deren Blind-Nutzung aus, beschwerte sich über "Falschmeldungen" über das Unternehmen, die auf der Plattform verbreitet werden würden, und behauptete, Blind wäre schlecht für die psychische Gesundheit. Die Rede führte zu regen Diskussionen unter der Meta-Belegschaft – vor allem auf Blind.

Neben forenähnlichen Diskussionsthreads sind Reviews einer der Hauptbestandteile von Blind. Hier bewertet etwa ein Tesla-Ingenieur seinen Arbeitgeber.

Foto: STANDARD/Screenshot

Schwieriger Spagat

Blind richtet sich nicht nur an Angestellte, sondern auch an Unternehmen. Die App bietet neben der Jobplattform "Talent by Blind" Arbeitgebern auch die Möglichkeit, Einsichten in das Verhalten ihrer Belegschaft zu erhalten. Dafür muss eine monatliche Gebühr bezahlt werden – eine der wenigen experimentellen Einnahmequellen von Blind.

Aktuell wird Blind hauptsächlich durch Fremdkapital am Leben gehalten. Das 2013 gegründete Start-up konnte bisher 37 Millionen Dollar lukrieren, zu den Investoren zählen etwa die Investmentsparte des US-Telekommunikationsriesen Cisco und die staatlich-singapurische Investment-Holding Temasek.

Die Anonymität der Angestellten soll darunter nicht leiden: Usernamen werden in der Ansicht für Unternehmen ausgeblendet – Blind gibt an, trotz Verifizierung via Arbeitsmail keine Rückschlüsse auf die Identität seiner Nutzerinnen und Nutzer ziehen zu können.

In Europa noch nicht offiziell verfügbar

Bisher ist Blind offiziell nur für Angestellte US-amerikanischer und südkoreanischer Unternehmen verfügbar. Wer nur interessehalber mitlesen will, kann aber aktuell nach einer Registrierung mit privater oder beruflicher Mailadresse viele Funktionen trotzdem verwenden. (Jonas Heitzer, 22.11.2022)