"Der Markt dominiert alles": Der Wiener Soziologe Rainer Prokop nimmt insbesondere die allfälligen Karrierechancen von Universitätsabgängerinnen und Universitätsabgängern unter die wissenschaftliche Lupe.

Foto: Ingo Pertramer

Zuschauerschwund, Einkommensverluste aufseiten freier Kultur- und Musikschaffender: Läutet für die Hochkultur das Totenglöcklein? Musiksoziologe Rainer Prokop war früher selbst Sänger der Indie-Band Wedekind. Seine Forderung: Die Institutionen müssen sich stärker diversifizieren.

STANDARD: Die Pandemie hat vor allem junge Kulturschaffende mit massiven Verdienstentgängen konfrontiert. Zugleich beklagen Kultureinrichtungen ein Ausbleiben des Publikums. Wie lässt sich das Zusammenwirken beider Tendenzen verstehen?

Prokop: Musikarbeitsmärkte haben sich in den letzten 20 Jahren stark verändert. In meinen Forschungen zum klassischen Musikarbeitsmarkt und zu den Werdegängen einer jüngeren Generation klassisch Ausgebildeter zeigt sich, dass die Anzahl der Abgängerinnen und Abgänger von Musikhochschulen stetig wächst. Gleichzeitig sinkt die Zahl der Orchesterstellen, der institutionalisierte Bereich der klassischen Musik ist von Rückbau betroffen. Das hat zur Folge, dass immer weniger Abgänger eine Fixanstellung in einem Orchester finden. Möchte man Musik unter professionellen Bedingungen betreiben, landet man also fast unweigerlich auf dem freien Markt mit seinen spezifischen Wettbewerbsprinzipien. Die Musikerinnen müssen ihr Erlerntes zusehends unter dem Aspekt der Verwertbarkeit handhaben. All das sind Folgen des Neoliberalismus.

STANDARD: Was passiert derweil mit dem Publikum?

Prokop: Im Bereich der klassischen Musik müssen wir eine Überalterung konstatieren. Es begeistern sich immer weniger junge Menschen für die Klassik, die historisch mit weißen Mittel- und Oberschichten verbunden ist. Man muss beim allgemeinen sozialen Wandel ansetzen. Lebensläufe gestalten sich in westlichen Gesellschaften heute bedeutend individualisierter als noch in den 1950ern oder 1960ern. Es gibt mehr Wahlmöglichkeiten. Gleichzeitig lagert der Neoliberalismus die Verantwortung für Bildung und Ressourcenzugang an das Individuum aus. Soziale Ungleichheiten verschärfen sich dadurch.

STANDARD: Muss man von einer Erosion sprechen?

Prokop: Ja, aber Publikumsschwund und die Krise der Hochkultur sind Entwicklungen, die es bereits vor der Pandemie gab. Covid hat als Beschleuniger gewirkt.

STANDARD: Wie ist es um die Einkommensentwicklung bestellt?

Prokop: Immer mehr freiberufliche klassische Musikerinnen und Musiker verfolgen sogenannte Portfoliokarrieren. Das heißt, dass sie ihren Lebensunterhalt durch eine Kombination unterschiedlicher musikalischer Tätigkeiten wie Konzerte, Unterrichten, Arbeit in Projekten und zuweilen durch berufliche Aktivitäten abseits des Musikarbeitsmarkts verdienen. Portfoliokarrieren spiegeln die Charakteristika der Arbeitsbedingungen von freischaffenden Kreativen und Kulturarbeiterinnen im Allgemeinen wider: die Abhängigkeit von Netzwerken, die wesentlich sind für den Zugang zu Informationen, Wissen und Jobs. Die Prekarisierung der Arbeit und des gesamten Lebens, einschließlich Formen der Selbstprekarisierung, weil es in der Regel nicht möglich ist, längerfristig zu planen und Rücklagen zu bilden. Oder auch Erfahrungen von Sexismus, Rassismus, Homo- und Transphobie.

STANDARD: Hat die Pandemie also eine Verarmung bewirkt?

Prokop: Die Maßnahmen gegen die Pandemie haben freiberufliche Musikschaffende äußerst stark getroffen, weil sie die ohnehin schon weitgehend prekären Arbeitsverhältnisse dieser Gruppe verschärft haben. Nicht alle konnten einen Anspruch auf Kompensationszahlungen geltend machen. Der Umsatzrückgang der Musikindustrien insgesamt war enorm, stärker als in den meisten anderen Kulturindustrien.

STANDARD: Und im popmusikalischen Sektor?

Prokop: Insgesamt scheinen sich Konzerttickets heuer so gut wie vor der Pandemie zu verkaufen, aber nicht alle Musikschaffenden und Veranstaltungen profitieren gleichermaßen. Viele Veranstaltungen, die in den letzten Jahren pandemiebedingt nicht stattfinden konnten, wurden in den letzten Monaten nachgeholt, wodurch ein kulturelles Überangebot entstanden ist. Ein Effekt davon ist, dass Konzerte von bekannten Acts durchwegs gut besucht sind, während zahlreiche kleinere Events eine geringere Auslastung haben oder sogar abgesagt werden müssen. Vor diesem Hintergrund können wir von einem Umverteilungseffekt von unten nach oben sprechen.

STANDARD: Wirken die enormen Ticketpreise abschreckend?

Prokop: Die erhöhten Ticketpreise sind ein Effekt von Inflation und Teuerung und stellen insbesondere kleinere Veranstaltungsorte vor große Herausforderungen. An kleineren Veranstaltungsorten müssten Konzerte – selbst unter der Bedingung höherer Ticketpreise – nahezu ausverkauft sein, um nicht zu einem Verlustgeschäft zu werden.

STANDARD: Wie ist es um die Teilhabe bestellt?

Prokop: Die multiple Krisensituation, zu der neoautoritative Tendenzen in der Gesellschaft gehören, Polarisierung, Job-Unsicherheit, Krieg, Energiekrise und vieles mehr, hat jeder Form einer optimistischen Fortschrittserzählung eine Absage erteilt. Wenn wir uns die Frage nach kultureller Teilhabe vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen stellen, dann wird es wohl notwendig sein zu überlegen, welche Angebote von Kulturbetrieben geschaffen werden können, die der Verschärfung von Ungleichheiten entgegenwirken.

Einige Kulturbetriebe haben in den letzten Jahren Diversitätsstrategien eingeführt mit dem Ziel, ein breiteres Publikum anzusprechen. Aber es braucht Diversität auf allen Ebenen des Kulturbetriebs. Das umfasst auch das Management, da Teilhabe ja auch bedeutet, aktiv an Entscheidungen mitzuwirken, wenn es um die Auswahl des Repertoires, die Vergabe von Verträgen, die soziale Zusammensetzung von Orchestern geht. Dafür braucht es einen politischen Willen und das Bewusstsein, dass Diversität hinsichtlich Ethnizität, Geschlecht, sexueller Orientierung oder Alter nicht von heute auf morgen herbeizuführen ist. Dazu gehören auch Überlegungen zu Fair Pay von Musikschaffenden. (INTERVIEW: Ronald Pohl, 22.11.2022)