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Junge Männer, die beim gemeinsamen Sportschauen noch Geld gewinnen: So werden Sportwetten in der Werbung dargestellt. Die Realität ist aber meist anders, bei Sportwetten gibt es ein großes Suchtpotenzial.

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Die Fußballweltmeisterschaft hat begonnen, und damit haben auch Sportwetten wieder Hochsaison. Fleißig Werbung wird auch dafür gemacht. Da wettet dann ein junger Mann in launiger Freundesrunde auf den Sieg seines Teams, er fährt einen Gewinn ein, und alle freuen sich. Oder die Street-Credibility wird beschworen, dass man das Zeug zum Gewinner hat. Tatsächlich kann man mit einer spontanen Wette schon mal einen netten Gewinn machen – es ist aber die Ausnahme. Die Wettrealität ist für viele eine andere. Da geht es um finanziellen Verlust, um Einsamkeit, im Extremfall sogar um Sucht, verbunden mit finanziellem Bankrott.

Tatsächlich ist Sportwettsucht weit verbreitet, es ist die zweithäufigste nicht stoffgebundene Sucht nach Spielsucht. Laut einer Repräsentativerhebung zu Konsum- und Verhaltensweisen mit Suchtpotenzial der Gesundheit Österreich aus dem Jahr 2021 platzieren vier von 100 Österreichern ab 15 Jahren Sportwetten. Gegendert wird hier absichtlich nicht. Denn es handelt sich dabei zum allergrößten Teil um (junge) Männer.

7,2 Prozent der Männer in Österreich wetten auf sportliche Ereignisse, bei den Frauen tun das nur 1,2 Prozent. Von den wettenden Personen erfüllen elf Prozent die Kriterien für problematisches und pathologisches Glücksspiel. Das ergibt, hochgerechnet auf die Gesamtbevölkerung, rund 100.000 wettsüchtige oder suchtgefährdete Personen in Österreich.

Und die Zahl der Süchtigen steigt. In der Steiermark hat sich die Zahl in den vergangenen fünf Jahren fast vervierfacht. Waren 2017 zehn Prozent der Menschen in Suchtberatung wettsüchtig, sind es jetzt 36 Prozent, sagt die klinische Psychologin Monika Lierzer von der Steirischen Fachstelle Glücksspielsucht: "Und das ist nur die Spitze des Eisbergs, wir sehen ja nur diejenigen, die sich Hilfe holen. Und in Therapie gehen weniger als zehn Prozent der Betroffenen."

Vom Kicken zum Adrenalinkick

Ein Grund dafür ist, dass das Wetten weit verbreitet ist und eine lange Tradition hat. Immer schon war es ein im Grunde harmloses Vergnügen, wenn Fußballfans während eines Großereignisses Tippgemeinschaften gründeten oder wöchentlich einen Toto-Schein ausfüllten. Die Suchtgefahr war allein deshalb schon gering, weil man meist lange warten musste auf die nächste Gelegenheit, zumindest bis zum nächsten Spieltag der Liga. Doch diese Voraussetzungen haben sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten massiv verändert, sagt Dietmar Jazbinsek, Gesundheitswissenschafter und Journalist, der seit 20 Jahren zum Schwerpunkt Sucht arbeitet.

Das betrifft vor allem den Fußball: "Durch den Bieterwettbewerb um die TV-Vermarktung der Spiele gibt es mehr Spieltage, die Anstoßzeiten wurden von Freitagabend bis Sonntagabend ausgedehnt." Aber noch viel gravierender hat sich die Digitalisierung ausgewirkt, weiß Jazbinsek: "Durch Onlinewetten und entsprechende Smartphone-Apps ist aus dem Wochenendritual mittlerweile ein Rund-um-die-Uhr-Angebot geworden. Man kann von überall aus mitwetten, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Gibt es hierzulande kein Sportereignis, kann man auch auf die zweite Liga in Kolumbien wetten, um nur ein Beispiel zu nennen."

Durch diese unbegrenzten Möglichkeiten entsteht ein Sog, eine Art Trance, die einen immer tiefer in die Welt des Wettens hineinzieht. Es ist einerseits eine Möglichkeit, der Realität zu entfliehen, andererseits bietet es einen permanenten Adrenalinkick, erklärt Psychotherapeutin Lierzer.

Junge Männer und Amateurkicker

Gefährdet sind vor allem jüngere, sportaffine Männer, Hauptaltersgruppe sind die 25- bis 44-Jährigen. Viele haben migrantischen Hintergrund, das liegt daran, dass ein Sportereignis eine emotionale Verbindung mit der Heimat darstellt. Gleichzeitig ist das Wettlokal ein Äquivalent zum Wirtshaus, man trifft sich dort zum Fußballschauen, weil man sich zu Hause das Pay-TV nicht leisten kann, erklärt Jazbinsek. Verstärkt werde die Wettmotivation dadurch, dass Wettcafés Horte einer traditionellen Männlichkeit seien: "Ein echter Mann macht seine Gefühle mit sich selbst aus, kommt der Erfolg nicht gleich, beißt man die Zähne zusammen und taucht durch. Die Anbieter nutzen diese Klischees und spielen damit."

Dazu kommt die Überschätzung der eigenen Fähigkeiten. Die klinische Psychologin Lierzer weiß: "Die Wettenden kennen sich aus im Sport, studieren Mannschaftsaufstellungen, Spielverläufe, sportliche Form der Spieler und mehr. Durch dieses Detailwissen übersehen sie aber, wie viele Zufälle am Ende zu Sieg oder Niederlage führen." Ist man siegreich, liegt es an den eigenen Fähigkeiten, man fühlt sich bestärkt. Läuft es dagegen nicht so gut, wird die Verantwortung nach außen transportiert: Der Schiedsrichter habe schlecht gepfiffen, der Tormann versagt, die Abwehrkette sei taktisch schlecht aufgestellt gewesen und mehr. "Da findet eine Pseudorationalisierung der Ereignisse statt, die mit der Realität aber wenig zu tun hat."

Die Überschätzung der eigenen Fähigkeiten spielt bei einer weiteren Risikogruppe eine große Rolle: den Amateurfußballern. Profifußballer sind übrigens nur deshalb nicht betroffen, weil ihnen das Wetten auf Spiele sowie die Weitergabe von Informationen als Grundlage für Wetten verboten sind.

"Diese Kicker sind junge Männer, die natürlich das Gefühl haben, dass sie ganz viel vom Fußballgeschäft verstehen, und sich dann denken, man wäre ja blöd, wenn man dieses Wissen nicht zu Geld macht", sagt Jazbinsek. Aber wenn man bei Sportwetten erfolgreich sein will, gehe es nicht um Sportwissen, da brauche man ein höheres mathematisches Wissen: "Man muss sich die Wettquoten unterschiedlicher Anbieter ausrechnen. Mit so einer buchhalterischen Herangehensweise kann man kontinuierliche, mäßige Gewinne erzielen. Das ist aber recht langweilig, die ganze Emotionalität fehlt. Und ein echter Fan wettet auch nicht gegen sein Team, das ist emotional gar nicht möglich."

Ausgeklügeltes Geschäftsmodell

Dass gerade in Österreich die Zahl der Wettsüchtigen so massiv gestiegen ist, liegt am ausgeklügelten Geschäftsmodell der Anbieter und am österreichischen System. Der Gang ins Wettbüro oder zur Bank, um Geld abzuheben, ist schon lange nicht mehr nötig, man kann online direkt aufs Konto zugreifen. Neben diesen zeitlichen und räumlichen Parametern hat sich auch das Gamedesign völlig verändert, führt Jazbinsek aus: "Die Anbieter offerieren eine Vielzahl an Optionen, etwa ob ein bestimmter Spieler trifft oder nicht, wie viele Tore insgesamt fallen, es gibt Handicap- und Kombinationswetten, aus denen der Kunde sein persönliches Menü zusammenstellen kann."

Aus der Suchtforschung wisse man, dass solche Auswahlmöglichkeiten den Glücksspielern das Gefühl vermitteln, sie könnten den Zufall kontrollieren. Verstärkt wird diese Kontrollillusion durch Spielstatistiken, Formtabellen und andere Hintergrundinformationen, die von Anbietern in Wettcafés oder auf Onlineportalen zur Verfügung gestellt werden. Dazu kommen Livewetten, deren Quoten sich mit dem Spielverlauf ändern. Man kann sogar eine laufende Wette vorzeitig beenden, um so Verluste zu minimieren oder sichere Gewinne abzuschöpfen – die dann meist unmittelbar wieder investiert werden. All das verlängert die Gesamtspielzeit.

Und genau diese "Time on Device" sei das Zauberwort – man soll so viel Zeit wie möglich am Handy und beim Zocken verbringen, erklärt Jazbinsek. "Dieses System ermöglicht ein Abtauchen in eine Parallelwelt, die realen Probleme, Geldsorgen inklusive, kann man derweil wegschieben."

Sondersituation in Österreich

Dazu komme, dass in Österreich eine ganz besondere Situation herrscht: Wetten sind hierzulande nicht als Glücksspiel definiert, sondern als Geschicklichkeitsspiel. Lierzer und Spielsuchttherapeutinnen österreichweit fordern deshalb, dass Sportwetten endlich rechtlich als Glücksspiel deklariert werden, erst dann kann man die offiziellen Spielerschutzregelungen anwenden. Man solle außerdem die Gesetzeslage vereinheitlichen, derzeit gibt es neun Landesgesetze, wie etwa Werbebeschränkungen zu handhaben seien. Dass hier eine richtige Einordnung stattfindet, sei Voraussetzung dafür, die Menschen für das Problem zu sensibilisieren.

Denn Wettsucht sei schwer zu erkennen: "Man kann sich ja jederzeit kurz zurückziehen, um eine Wette zu platzieren, das kann man lange verbergen", betont Lierzer. Anderen, auch nahestehenden Personen falle oft erst auf, dass da ein Problem sein könnte, wenn von hohen Gewinnen geprahlt wird, Verluste aber nie ein Thema sind, wenn sich Menschen zurückziehen und nicht mehr am sozialen Leben teilnehmen wollen oder wenn Geldprobleme offensichtlich werden.

Draufzahlen tun übrigens nicht nur die Wettsüchtigen, auch der österreichische Staat verschenke Geld, sagt Wettsucht-Experte Jazbinsek: "Die Anbieter zahlen hier eine Wettgebühr von zwei Prozent, in Deutschland sind das zumindest fünf Prozent. Angesichts der finanziellen Folgen für Spielsüchtige, für Suchtberatungsstellen, Therapieaufwand bis hin zu Gefängnis ist das für die Solidargemeinschaft ein großes Verlustgeschäft." (Pia Kruckenhauser, 27.11.2022)