Am US-Jobmarkt fehlen nach der Pandemie mehrere Millionen Beschäftigte. Was ist mit den Menschen geschehen?

Im Gegensatz zu Europa gilt in den USA der Arbeitsmarkt seit der Pandemie als überhitzt: Unternehmen suchen händeringend Personal, die Löhne sind um sieben Prozent im Jahresabstand angezogen. In der US-Notenbank wächst die Sorge, dass die Entwicklung die hohe Inflation weiter antreiben wird. Der Ökonom Nicholas Eberstadt hat ein aktuelles Buch dazu geschrieben, warum am Jobmarkt Knappheit herrscht.

STANDARD: Wie viele Menschen fehlen derzeit konkret auf dem US-Arbeitsmarkt.

Eberstadt: Wir erleben derzeit einen beispiellosen Arbeitskräftemangel. Zwischen zehn und elf Millionen Arbeitsplätze können in der Post-Corona-Ära in den USA nicht besetzt werden. Das sind um vier Millionen mehr offene Stellen als vor der Pandemie. Außerdem stehen dem Arbeitsmarkt heute im Vergleich zu den Prognosen vor der Pandemie vier Millionen Menschen nicht zur Verfügung.

STANDARD: Wo sind diese Menschen?

Eberstadt: Wir haben in den USA schon seit Mitte der 1960er-Jahre das Problem, dass immer mehr Männer im besten Erwerbsalter aus dem Arbeitsleben komplett ausscheiden. Aber diese länger andauernde Entwicklung ist nur für einen Teil des aktuellen Arbeitskräftemangels verantwortlich. Die meisten Menschen, die nach der Pandemie aus dem Arbeitsmarkt ausgeschieden sind, waren ältere Personen über 55.

STANDARD: Warum scheiden sie aus?

Eberstadt: Die Krankheit, also das Coronavirus, ist nicht der Grund für diese Entwicklung. Corona tötete mehr als eine Million Menschen in den USA. Die meisten davon waren aber sehr alt und nicht mehr Teil der Erwerbsbevölkerung. Viele Menschen in den USA leiden unter Long Covid. Aber die Zahl der über 55-Jährigen, die angeben, wegen Long Covid nicht arbeiten zu können, ist niedrig. Verantwortlich sind tatsächlich die Corona-Hilfen: Durch die Corona-Gelder ist das Vermögen der ärmeren Hälfte der US-Bevölkerung um zwei Billionen Dollar gestiegen. Das ist eine Verdoppelung des Nettovermögens in der Gruppe. Dieses Geld benutzen die Menschen offensichtlich, um vorzeitig in Ruhestand zu gehen.

US-Ökonom Nicholas Eberstadt.
AEI

STANDARD: Der Staat zahlte pro Kopf ein paar Hundert Dollar in der Woche an Corona-Hilfen aus. Wer kann davon langfristig leben?

Eberstadt: 18 Monate lang hat es eine Auszahlung von 600 Dollar pro Woche gegeben, danach folgten 300 Dollar in der Woche, bis die Hilfen im September 2021 endeten. Das war aber nur eine von vielen staatlichen Transferleistungen. Das Nettovermögen der ärmeren Hälfte der Bevölkerung ist im Schnitt um 25.000 Dollar gestiegen. Ist es möglich, sich mit 25.000 Dollar für immer zur Ruhe zu setzen? Ich bezweifle das. Viele werden aus dem vorzeitigen Ruhestand zurückkehren.

STANDARD: Das wird die Probleme am Arbeitsmarkt aber nicht lösen, wenn ich Sie richtig verstehe. Denn da gibt es noch die von Ihnen erwähnten jungen Männer, die den Jobmarkt in steigender Zahl verlassen. Wer ist diese Gruppe?

Eberstadt: Es handelt sich dabei im Regelfall um unverheiratete Männer zwischen 25 und 54 Jahren. Zur Gruppe gehören derzeit sieben Millionen Menschen in den USA. Sie haben keinen Job und suchen auch keine Arbeit, gehören damit zu den Erwerbsinaktiven. Die sieben Millionen entsprechen jedem neunten Mann in besagter Altersgruppe. Der Anteil der Inaktiven in der betreffenden Altersgruppe hat sich seit den 1960er-Jahren versechsfacht.

STANDARD: Sind das Weiße oder Afroamerikaner, Einheimische oder Einwanderer?

Eberstadt: Die Zahlen sind für Weiße wie für ethnische Minderheiten etwa gleich hoch. Afroamerikaner werden häufiger inaktiv als Weiße, dafür sind Hispanics und asiatische Amerikaner seltener betroffen. Der wichtigste Einflussfaktor, weit wichtiger als die Ethnie oder der Bildungsgrad, ist der Familienstatus: Bei verheirateten Männern ist das Risiko, inaktiv zu werden, deutlich geringer. Verheiratete Afroamerikaner sind zum Beispiel eher aktiv am Arbeitsmarkt als unverheiratete weiße Männer. Verheiratete, im Ausland geborene Männer ohne High-School-Abschluss haben eine gleich hohe Chance, aktiv zu sein, wie einheimische Männer mit einem College-Abschluss. Bei Männern, die eine Highschool abgebrochen haben und nie verheiratet waren, ist gerade jeder Zweite am Arbeitsmarkt aktiv. Das ist eine katastrophal niedrige Rate.

STANDARD: Was sind die Gründe dafür, dass diese Leute inaktiv werden?

Eberstadt: Einige von ihnen, ein Zehntel, sind Vollzeitstudenten. Sie arbeiten nicht, weil sie sich weiterbilden, um ihre Fähigkeiten zu verbessern und wieder in den Arbeitsmarkt einzusteigen. Die überwältigende Mehrheit der Männer scheinen jedoch Langzeitaussteiger zu sein, die seit vielen Jahren nicht erwerbstätig sind. Nur wenige geben an, keinen Job gefunden zu haben. Viele leiden unter psychischen wie physischen Schmerzen. In Befragungen deuten sich die Probleme an: Die Leute sagen, dass sie nicht arbeiten, sich aber auch nicht in der Zivilgesellschaft engagieren, also nicht ehrenamtlich aktiv sind, niemanden pflegen, keine Gottesdienste besuchen. Die Männer tun im Haushalt wenig. Sie verbringen viel Zeit damit, auf Bildschirme zu starren: mehr als 2000 Stunden im Jahr. Das ist wie ein Vollzeitjob. Fast die Hälfte der Männer hat laut Befragungen vor der Pandemie angegeben, täglich Schmerzmittel zu nehmen. Sie spielen also nicht nur viele Videospiele, sondern sind dabei häufig zugedröhnt.

STANDARD: Wir sprachen bisher nur von inaktiven Männern. Gibt es auch inaktive Frauen?

Eberstadt: Ja, allerdings weit weniger. Die Gruppe, die mir sorgen bereitet, ist klein. Die meisten inaktiven Frauen sind Mütter, und ihre Zeitverschwendung sieht ganz anders aus als die der Männer. Wenn sie inaktiv sind, kümmern sie sich um Kinder und andere Angehörige. Im Gegensatz zu den Männern, die sich als Langzeitaussteiger entpuppen, schaffen es die Frauen im Regelfall wieder auf den Arbeitsmarkt zurückzukehren.

STANDARD: Was könnte getan werden, um diese sieben Million Männer in Jobs zu bringen?

Eberstadt: Nötig wäre eine Kombination von Maßnahmen. Ein Teil des Problems ist, dass viele Menschen die Schule verlassen, aber nicht mit jenen Qualifikationen, die sie am Jobmarkt sinnvoll und längerfristig einsetzen können. Es bräuchte also bessere Bildungsinstitutionen, um die Menschen stabiler in Beschäftigung zu halten. Es gibt da Dinge, die wir von deutschsprachigen Ländern wie Österreich lernen sollten: Lehrlingsausbildungsprogramme könnten helfen. Wir brauchen ein besseres Sozialsystem, das mehr Anreize für Arbeitsaufnahmen schafft. Unser Sozialsystem ermöglicht vielen Betroffenen, inaktiv zu bleiben. Viele nordische Länder dagegen zahlen Sozialhilfen erst aus, wenn eine gewisse Zeit gearbeitet wurde. Hinzu kommt, dass jeder siebente Mann in den USA wegen einer schweren Straftat verurteilt wurde. Auch das erschwert vielen die Rückkehr. Wir müssten härter daran arbeiten, diese Menschen in die Gesellschaft zurückzubringen. (András Szigetvari, 22.11.2022)