Innenminister Gerhard Karner (ÖVP).

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Wien – Mit seinem strategisch angelegten harten Asylkurs samt wirkungsvoller Eigen-PR – "ich habe die Balkanroute geschlossen" – hatte sich der ehemalige Bundeskanzler und ÖVP-Chef Sebastian Kurz des blauen Leibthemas bemächtigt und die FPÖ ausgehöhlt. Doch seit dem im Zuge der Chataffäre erzwungenen Abgang von Kurz sanken nicht nur die Umfragewerte dramatisch, auch die Kompetenz der ÖVP in Sachen Asyl bekam allmählich ordentliche Schrammen ab. So hat jetzt der Sender ATV eine Hajek-Umfrage veröffentlicht, wonach der Kanzlerpartei nur noch jeder zehnte Befragte Kompetenz in Sachen Migration zubilligt.

Innenminister Gerhard Karner versuchte seiner Partei wieder ein kantiges Migrationsprofil zu verpassen.
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Bundeskanzler Karl Nehammer, aber vor allem auch Innenminister Gerhard Karner versuchen ganz offensichtlich, mit harten Ansagen und ebensolchen Positionen wieder Terrain gutzumachen.

Frage: Mit welchen Akzenten möchte Innenminister Gerhard Karner wieder die Themenführerschaft in Sachen Migration für die ÖVP gewinnen?

Antwort: Mit seiner Drohung, die anstehenden Beitritte von Kroatien, Rumänien und Bulgarien zum Schengen-Raum zu boykottieren (siehe Wissen), hat der Innenminister zuletzt scharfe Kanten gezeigt.

Frage: Mit welchen Argumenten will Karner einen Beitritt von Kroatien, Bulgarien und Rumänien verhindern?

Antwort: "Ein kaputtes System zu erweitern kann nicht funktionieren. Die Lage in Europa zeigt glasklar, dass der Außengrenzschutz gescheitert ist", argumentiert Karner. Von ihm als Innenminister gebe es daher ein "klares Nein", sagte der Minister im Ö1-Mittagsjournal.

In dieser Frage vollzieht die ÖVP allerdings eine Wendung, denn zu Jahresbeginn klang die Position noch anders. Die für diese Frage zuständige EU-Ministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) stellte klar, dass der Beitritt Kroatiens zum Schengen-Raum ein wichtiges Sicherheitsthema für die EU sei. Edtstadler versicherte mehrmals, dass sie den Schengen-Beitritt Kroatiens auf europäischer Ebene unterstützen werde.

Für ihren Parteikollegen Karner hat sich offensichtlich einiges geändert. Der Innenminister präzisierte im Kurier: "Es ist eine Unzeit, jetzt über eine Erweiterung abzustimmen, wenn das System der Außengrenze nicht funktioniert." Auslöser für den Widerstand sei der Flüchtlingsstrom, der sich über den Balkan nach Zentraleuropa ergieße. Über 90.000 Migranten seien heuer schon in Österreich aufgegriffen worden. 75.000 davon seien in keinem anderen EU-Land registriert worden, heißt es aus dem Innenministerium.

Frage: Wie reagieren die anderen Mitgliedsstaaten auf Karners Vorstoß?

Antwort: Trotz der jüngsten Ankündigungen seines österreichischen Amtskollegen rechnet der kroatische Innenminister Davor Božinovic mit der Unterstützung Österreichs für den Schengen-Beitritt. Er sieht Karners Aussage im Kontext mit der stark angestiegenen irregulären Migration.

"Es gibt ein Problem, aber bezüglich Migration, nicht wegen Schengen", sagt Božinovic. Kroatien, Rumänien und Bulgarien sind jedenfalls darum bemüht, das österreichische Veto bis zum 8. Dezember zu verhindern. An dem Tag stimmen die EU-Minister über die Erweiterung des Schengen-Raums ab. Neben Österreich sind aber auch die skandinavischen Länder skeptisch gegenüber der Erweiterung gestimmt.

Frage: Unterdessen hat sich auch die SPÖ, und zwar in Form der Kärntner Landespartei, mit einem kontroversiellen Vorschlag zum Thema gemeldet. Sie fordert ein Überdenken des Dublin-III-Abkommens. Was sagt die ÖVP dazu?

Antwort: Die Kärntner Landesrätin Sarah Schaar (SPÖ) will die Dublin-III-Verordnung (siehe Wissen) zum Teil außer Kraft setzen, um Personen die Durchreise in Österreich zu ermöglichen. Bisher ist es laut Verordnung verpflichtend, dass Personen, die in Österreich aufgegriffen werden, registriert werden. Schaar argumentiert damit, dass andere EU-Staaten ebenfalls Migrantinnen ohne Verfahren durchlassen.

Mit der Aufhebung des Dublin-Verfahrens würden weniger Menschen in Österreich bleiben, so die Landespolitikerin. Die ÖVP warnt hier allerdings, dass die Aufhebung der Verordnung die Sicherheit im Land gefährde. So könnten alle Personen ohne Einschränkungen nach Österreich reisen. Kritik kommt auch von der FPÖ, sie äußert ebenfalls Sicherheitsbedenken.

Frage: Warum leidet die ÖVP, wie die jüngste Erhebung zeigt, ausgerechnet bei diesem Thema unter derart großem Misstrauen?

Antwort: Meinungsforscher Peter Hajek hatte für ATV konkret abgefragt, welche Partei "die besten Vorschläge beim Thema Zuwanderung" habe. 34 Prozent sprachen der FPÖ hier die größte Kompetenz zu, 13 Prozent stimmten für die SPÖ. Erst auf Platz drei folgte die ÖVP mit zehn Prozent.

Frage: Aber ist die Stichprobe mit 500 Befragten nicht zu klein, um hier überhaupt klare Aussagen abzuleiten?

Antwort: Für Politikberater wie Thomas Hofer haben die Ergebnisse in der Tendenz durchaus eine Plausibilität. Denn die Partei habe bereits durch die Vielzahl an Skandalen und durch die Veröffentlichung der Chatprotokolle schwer an Glaubwürdigkeit verloren.

Man könne bei einer Umfrage mit einem Sample von 500 natürlich über ein paar Prozentpunkte mehr auf oder ab streiten, doch der Trend sei "ganz klar", sagt auch Meinungsforscher Peter Hajek: "Die ÖVP bekommt beim Thema Asyl seit dem Abschied von Sebastian Kurz keinen Fuß mehr auf den Boden."

Gezeigt habe dies der Versuch von Klubchef August Wöginger, via STANDARD eine Debatte über die Änderung der Europäischen Menschenrechtskonvention loszutreten. Die Aktion sei doppelt missglückt, befindet Hajek: Erstens spielte die Debatte der FPÖ in die Hände, zweitens habe sich die ÖVP einen innerparteilichen Zwist eingehandelt.

Frage: Hat sich die ÖVP also beim Thema festgefahren?

Antwort: Offensichtlich ist, dass die Kanzlerpartei in der Frage der Migration keine konsistente Linie erkennen lässt. Kanzler und Parteichef Karl Nehammer versucht die Asylproblematik mit Auslandskontakten und Kooperationen mit Ungarn und Serbien aufzufangen. Klubchef August Wöginger will die Menschenrechtskonvention diskutiert wissen, Karner löst mit seiner Vetodrohung gegen die Schengen-Beitritts-Kandidaten Irritation aus. Schließlicht löst Karner noch eine heftige Debatte um seine Flüchtlingszelte aus. Dennoch urteilt Hofer: "Karl Nehammer kann überhaupt nicht in den FPÖ-Bereich hineinstrahlen." (Walter Müller, Max Stepan, 22.11.2022)