Balkone – Sehnsuchtsorte.
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Das muss alles nichts bedeuten. Dass ich hier draußen bin, einmal mehr, das Kommen und Gehen beobachte, das Austauschen der üblichen Allgemeingültigkeiten, Freundlichkeiten und die kleinen Störgeräusche dazwischen, auch das Subkutane, das Echte, das Erkennen, wir sind unter uns, unter Freunden. Und dass das meine Party ist, vor der ich mich hier draußen verschanzt habe auf dem herbstkalten Balkon. Ich hab Zigarette und Feuer geschnorrt, dabei rauche ich nicht mehr, und ich rauche ja gar nicht, ich drehe die Zigarette zwischen meinen Fingern hin und her, lasse das Feuerzeug auf- und zuschnappen wie eine Möglichkeit. Mein Blick schweift im Raum, hinter dem Glas der Schiebetüren schwimmen die Gäste in meinem kleinen Lebensaquarium kreuz und quer, ich hätte die Scheiben putzen können, sollen, vielleicht, macht ja nichts. Ich sehe zu, wie Münder sich öffnen, schnappen, hefte Sprechblasen an Lippen und schreibe dazu, was gesagt werden könnte, sollte, vielleicht. Es läutet an meiner Wohnungstür, aber ich muss mich nicht kümmern. Gäste öffnen Weinflaschen und schenken Gläser voll, Gäste lassen neue Gäste herein, begrüßen sie, nehmen meine Geschenke entgegen. Die Musik stoppt, wechselt abrupt, wird noch einmal mitten im Song abgebrochen, wird lauter, tanzbarer. Vor der Kücheninsel, wo es sich am meisten staut, beginnen ein paar zaghaft zu wippen, sehen sich um, ob jemand schaut.

Behutsam durchbrechen

N. steuert direkt auf mich zu, schiebt die Balkontür nur ein Stück weit auf und schlängelt sich umständlich durch, ein Schwall Lärm spült nach draußen, sie zieht die Tür schnell wieder zu. Sie weiß immer, wo sie mich finden kann, und auch, dass sie diese meine vierte Wand behutsam durchbrechen muss. Wir umarmen uns.

– Na, happy?

– Sind wir schon betrunken?

– Ich bin mir nicht sicher, du?

– Rauchst du wieder?

– Schnorrst du mir eine?

– Wenn es dich nicht stört, die hier ist ein bisschen geknickt.

Ich sehe N. zu, wie sie meine Möglichkeitszigarette raucht, als wäre es ihre letzte.

– Willst du einen Zug?

Ich bin wieder fünfzehn Jahre alt, ich ziehe, mir wird für einen Moment schwindelig.

– Darf ich dir eine Frage stellen?

Eine Frage. Ein Satz, der verwandt ist mit dem: Ich muss mit dir reden. Der die gleiche Beklemmung auslöst. Ich könnte sagen, dass die Frage an sich schon eine Frage sei, und, selbst wenn ich sie mit einem Ja beantworten würde, dass mit diesem Ja also auch das Fragen an sich abgeschlossen wäre. Rhetorisch, theoretisch, in der Praxis, whatever.

– Arbeitest du wieder an etwas Neuem? Es wird langsam Zeit, oder?

Etwas Zeit retten

N. kenne ich am längsten von allen hier. Ihre Scheidung scheint ihr gutzutun, endlich geht es nicht mehr allein um die Kinder, das Haus, den Kredit, endlich geht es um sie. Aber ich frage nicht. Und auch sie bohrt nicht weiter in mein Schweigen hinein. Es wird Zeit, sie hat recht, und zugleich ist mir, als wären wir ohnehin nicht hier, jede von uns, sondern an einem anderen Ort in der Zeit, vielleicht ist es 1999, 2011 oder der letzte Juni. Unsere ersten Partys fanden bei N. zu Hause statt. Für uns waren sie legendär. In Endlosschleife liefen unsere selbst ernannten Kultfilme, wobei die Schleife mit einem holprigen Zurück zum Anfang verbunden war, da wir Videokassetten abspielten. Ich erinnere mich an Mickey Rourke und Faye Dunaway in Barfly und an das Geräusch nach dem Abspann, am Ende der Kassette, an das nervöse Sirren des Zurückspulens. Wir haben uns damals gefragt, wie alte Leute wohl ihre Partys feiern, und jetzt sind wir diese alten Leute geworden. N. fragt, ob ich mich erinnere. Dabei tut das nichts zur Sache, N. wird, ohne auf meine Antwort zu warten, eine unserer alten Geschichten erzählen, in der immer ich die Hauptrolle spiele. Es ist, als würde sie durch die Wiederholung etwas von der Zeit retten wollen, in der alles leichter schien, in der wir glücklich waren. Dieses Mal ist es die Wendeltreppe: An einem Punkt einer Partynacht bei N. war ich in eine Zeitschleife geraten, so fühlte es sich zumindest an in meinem Rauschkopf, gefühlte Stunden mühte ich mich ab, eine scheinbar endlose Treppe hinaufzuklettern, dabei war ich nur eine ganze Weile dieselben vier Wendeltreppenstockwerke des Mietshauses auf und ab gelaufen, natürlich ohne irgendwo anzukommen, bis mich N.s Hand vom Geländer löste und zurück auf die Party führte.

– Komm, wir gehen wieder rein.

Ich leiste zu meiner eigenen Überraschung keinen Widerstand, werde in den Raum gezogen, hinein in die Geräusche, Farben, Gespräche, Gesichter, die sich mir zuwenden. Wir schieben uns vorbei an den jetzt mit vollem Körpereinsatz Tanzenden. Wo ich die ganze Zeit war? Wie es mir geht? Wann wir den Kuchen anschneiden? Mir ist, als würde ich mich nicht nur durch den Raum, sondern durch eine Welle von Befindlichkeiten und Gemütszuständen manövrieren. Ist das jetzt diese Fähigkeit, den Raum zu lesen, oder mein Wunschdenken, eine Einbildung, diese Fähigkeit zu besitzen. Für wen tanzen eigentlich die, die tanzen?

– Ist dir eigentlich mal aufgefallen, dass die meisten Songs über Partys traurig sind oder zumindest melancholisch?

– Was hast du gesagt?

– Ich komme gleich wieder.

– Was?

Ich winke ab, nehme den Flur Richtung Bad. Die Tür zum Zimmer meiner Tochter ist angelehnt, ich werfe einen Blick hinein, dabei weiß ich ja, dass sie nicht da ist, heute hat sie mir die Wohnung überlassen. Es ist keine Sorge, die ich empfinde, wenn sie unterwegs ist, nur der Gedanke, ob ich ihr über die Jahre das Richtige mitgegeben habe, dass sie mit allem zurechtkommen kann, was und wer immer ihr begegnen mag. Wahrscheinlich nicht. Und doch bin ich zuversichtlich. Jetzt sind wir beide alt genug, sagt diese Zuversicht, die man Liebe nennen könnte. Ich könnte, ich sollte vielleicht zurück zu meinen Gästen. Bin ich aus der Übung, eine Party zu geben? Warum habe ich überhaupt so viele eingeladen, zu viele, aus einer Laune, einem Übermut heraus. Oder war ich nie in der Übung. Eine Tür weiter schlüpfe ich in mein Schlafzimmer hinein, lasse mich aufs Bett fallen, auf die Schichten von Mänteln und Jacken der Gäste. Schließe die Augen, rolle auf die Seite. Der Duft eines lieblichen Parfüms und kalter Rauch im Futter eines Mantels.

Das ganze Leben ein Fluss

Ich bin nicht fünfzehn Jahre alt, ich taste nach der Hand von N., ich bin nüchtern, vielleicht happy, das Bett dreht sich nicht. Etwas von der Zeit retten, murmle ich sinnlos vor mich hin. Ich denke an eine Serie, in der die Protagonistin die Nacht ihres Geburtstags immer wieder erlebt. Sie stirbt jedes Mal und kommt jedes Mal wieder auf der Toilette der Party zu Bewusstsein. Es braucht eine Wandlung, etwas, dass sie durchleben muss, bevor sie aus diesem Kreis ausbrechen kann. Und was, wenn sie gar nicht ausbrechen will? Und ich. Soll ich jetzt Bilanz ziehen, aufzählen, interpretieren, aus einem Bedürfnis der Ordnung heraus. Soll ich mich vervielfältigen und an mehreren Orten und Zeiten meines Lebens gleichzeitig existieren, in Gedanken. Soll ich diese meine möglichen Verortungen einordnen, ganz so, wie Menschen eine Epoche dokumentieren, Kunst, Literatur, politische Entwicklungen, Ideologien, Umbrüche. Das ganze Leben als Fluss von Daten und Zeit und Erinnerungsarbeit, im Versuch zu beweisen, dass wir wirklich existieren und warum. Und wie sich in all dem etwas finden kann, etwas wie Glück.

Ich denke an J., irgendwo da draußen mit einem Drink in der Hand, und an seinen Traum, den er mir auf einer Büroweihnachtsfeier mit schwerer Zunge erzählt hat. Dass er eines Morgens in sein Büro kommt und alles verschwunden ist, alle Aufträge, Rechnungen, Belege und alle über die Jahre gesammelten Daten von sämtlichen Rechnern, Festplatten, alle Back-ups, dass ausnahmslos alle Server gelöscht sind. Die Vorstellung einer Auslöschung, die ihn mit unfassbarer Heiterkeit und Leichtigkeit erfüllt.

Aus einem Impuls heraus nehme ich einen der Mäntel, probiere ihn vor dem Spiegel, ändere auf dem Weg zur Tür meine Meinung, wähle einen anderen, diesmal ohne noch einmal mein Ich im Spiegel zu checken. Bevor mein Beschluss wirklich gefasst ist, bevor mich noch jemand ansprechen kann, schließt sich die Wohnungstür hinter mir. Entkomme ich unbemerkt.

Meine Schritte auf der Treppe werden schneller, dann die Straße hinunter, als wüsste ich, wohin. Ein Blick hoch zu meinem Balkon, wo jemand im Gegenlicht lehnt. (RONDO Exklusiv, Sandra Gugic, 6.1.2023)