"Konsum macht glücklich, wenn er auf einem Zustand des Ausgleichs beruht. Er macht unglücklich, wenn er auf einem Gierverhalten basiert", so die Philosophie von August Ruhs.
Foto: August Ruhs

Der Aufzug im wunderbar erhaltenen Gründerzeithaus unweit des Stephansdoms mag nicht daherkommen, also werden die fünf Stockwerke zu Fuß erklommen. Die Tür zur Praxis steht einen Spalt weit offen, die Sessel im Wartezimmer sind leer, darüber hängen Kunstwerke bekannter Künstler und Künstlerinnen. Ein Räuspern lässt erahnen, dass der Herr Professor gleich die Türe zu seinem Arbeitszimmer öffnen wird. Die Ahnung trügt nicht. Man tritt also ein und nimmt neben dem Psychoanalytiker an einem kleinen Tischchen Platz. Gegenüber befindet sich ein großer Schreibtisch, ein Regal mit sehr vielen Büchern, und natürlich gibt es auch die obligatorische Couch. Das Diktiergerät ist bereit, August Ruhs auch. Er wirkt zufrieden. Ob er auch glücklich ist, wird sich zeigen.

STANDARD: Wie denken Sie über Glücksbringer?

Ruhs: Das Thema hat sich in meinem Falle mit dem Erwachsenwerden ziemlich erledigt. Aber natürlich schlummern noch Reste eines gewissen magischen Denkens in einem. Diese Reste glauben daran, dass man etwas erreichen kann, wenn man es sich intensiv genug wünscht. Und manche Leute bedienen sich diesbezüglich eben bestimmter Gegenstände oder gewisser Zeichen und Symbole.

STANDARD: Das hat aber nicht unbedingt mit Intelligenz und Aufgeklärtheit zu tun, oder?

Ruhs: Da fällt mir eine nette Geschichte ein. Der berühmte Physiker Wolfgang Pauli besuchte seinen Kollegen Niels Bohr. Beide waren Nobelpreisträger. Pauli sah über der Haustüre von Bohr ein Hufeisen hängen und fragte diesen verwundert, ob er denn an so etwas glaube. Bohr soll geantwortet haben: "Natürlich nicht, aber es soll einem auch helfen, wenn man nicht daran glaubt."

STANDARD: Sie besitzen also keinen Glücksbringer?

Ruhs: Nein, eigentlich nicht.

STANDARD: Und wofür steht das "eigentlich"?

Ruhs: Sagen wir es so, ich bin feinfühliger, wenn es sich um Unglücksbringer handelt, also Dinge, die man als böses Omen bezeichnet. Zum Beispiel die schwarze Katze, die von links kommt. Genau so etwas in der Richtung. Da bin ich etwas empfindlicher.

STANDARD: Und unerwachsener?

Ruhs: Ja, unerwachsener. Das hindert mich aber nicht daran, in einem Hotelzimmer mit der Nummer 13 zu nächtigen.

STANDARD: Spielen Sie Lotto?

Ruhs: Nein. Ich bin mit Wahrscheinlichkeitsrechnungen mehr befasst als mit einem Glauben an Wunder. Ich gehöre zu den Menschen, die Lotterien eher abschätzig mit dem Begriff "Deppensteuer" abtun.

STANDARD: Es handelt sich aber um eine Steuer, die niemand zahlen muss.

Ruhs: Ich zahle gern Steuer, wenn ich weiß, wofür sie gut ist. Wenn ich in die Lotterie einzahlen würde, hätte ich doch den Eindruck, dass das verlorenes Geld wäre.

STANDARD: Herr Professor, was ist eigentlich Glück?

Ruhs: Glück bedeutet zweierlei, was in der deutschen Sprache allerdings verwischt wird. Im Englischen wird unterschieden zwischen "happiness" und "luck". In Frankreich sagt man "bonheur" oder "chance". Es geht einerseits um einen subjektiven Zustand samt euphorischem Gefühl, andererseits sprechen wir von einer glücklichen Fügung ohne wesentliche Selbstbeteiligung.

STANDARD: Zum Beispiel?

Ruhs: Na ja, wenn zum Beispiel jemand sagt: "Hab ich ein Glück gehabt, dass ich nicht in dieses Flugzeug gestiegen bin, das abgestürzt ist." Dabei handelt es sich um "good luck".

STANDARD: Ist Glück überhaupt fassbar?

Ruhs: Als subjektives Moment schon. Als Gefühlsausdruck.

STANDARD: Das heißt, Menschen erleben Glück auf verschiedene Arten.

Ruhs: Wir sind alle aus dem gleichen Holz geschnitzt, und dennoch ist jeder und jede einzigartig. Die einen genießen ihr Glück in Stille und Heimlichkeit, andere verfallen in einen Freudentaumel. Für manche ist es ein länger andauernder Zustand, der in Zufriedenheit übergeht, andere sind stark betroffen von wechselnden Zuständen, die sich ins Positive oder Negative bewegen. Sagen wir es so: Was Glück wirklich ist, ist schwer zu fassen, aber was Glück bedeutet, kann jeder Mensch sagen, der den Begriff kennt. Es ist eine äußerst individuelle Geschichte.

STANDARD: Welche Dimension kommt Glück in unserer Gesellschaft zu?

Ruhs: Eine besondere Tragweite erlangte der Begriff durch Thomas Jefferson und die Unabhängigkeitserklärung der USA, in der es auch um "the pursuit of happiness" also um das "Streben nach Glück" geht. Unter Vermischung mit ökonomischen Weltanschauungen, insbesondere mit dem Kapitalismus haben sich Glück als Zustand und Glück als Besitz derart vermischt, dass die Auffassung von Glück eine sehr materialistische wurde.

STANDARD: Da landen wir schnurstracks bei Glück durch Konsum. Warum suchen so viele Menschen ihr Glück im Konsum?

Ruhs: Durch einen gewissen Niedergang des Spirituellen, auch des Religiösen, sind wir im Verlauf der Neuzeit zu einer sehr materialistischen Weltauffassung gekommen. Das "Haben" hat zuungunsten des "Seins" sehr an Bedeutung gewonnen. Man sucht sein Glück in Besitztümern und wird dem Diktat des Kapitalismus unterworfen. Es geht um einen Imperativ der Konsumation. Alles zielt auf Gewinn ab, allerdings nicht auf den Gewinn von inneren Werten.

STANDARD: Aber macht Konsum glücklich?

Ruhs: In diesem Punkt muss man unterscheiden. Er macht glücklich, wenn er auf einem Zustand des Ausgleichs beruht. Er macht unglücklich, wenn er auf einem Gierverhalten basiert. Gier ist unbefriedigbar, weil sie immer mehr verlangt. Sie ist eine immer hungrige Bestie.

STANDARD: Bei manchen hungriger, bei anderen weniger.

Ruhs: So ist es. Da fallen mir Donald und Dagobert Duck ein. Der eine schwimmt im Geld und ist unglücklich, der andere ist ein armer Schlucker, aber ganz gut drauf.

STANDARD: Welche Art von Konsum macht Sie glücklich, gleicht Sie aus?

Ruhs: Ich gehe mit dem Wort "glücklich" relativ sparsam um. Aber sagen wir es so, wenn ich mir ein schönes Buch kaufe und lese, dann macht mich das nicht wirklich glücklich, aber ich erfreue mich daran, bin gespannt und erlebe Lust. Glück ist für mich eher mit einem Gelingen verbunden, einem glücklichen Ausgang nach einer Anstrengung.

STANDARD: Das ist ein Glück, das Sie beeinflussen können.

Ruhs: Das stimmt, allerdings ist es auch von einer gewissen Fügung abhängig, die nicht unbedingt in meinem Wirkungsbereich liegt.

STANDARD: Sie gebrauchen öfters den Begriff Fügung. Ist denn Fügung nicht auch Glück?

Ruhs: Durchaus, es geht allerdings einerseits um Glück als Zustand und andererseits um Glück als Zufall. Darin liegt der Unterschied.

STANDARD: Wie schaut es mit dem Glück und der Liebe aus?

Ruhs: In der Liebe trifft ein Begehren auf ein anderes Begehren, wobei das Begehren des Gegenübers nicht wirklich im eigenen Einflussbereich liegt. Strengt man sich allerdings an, kommt eventuell das Glück der Fügung hinzu und es begegnet einem vielleicht das höchste Glück, das der Mensch erfahren kann. Im Übrigen handelt es sich dabei meistens nur um ein mittellanges Glück, weil das ganz große, höchste Glück im Sinne von Freud im Lebensplan des Menschen nicht vorgesehen ist.

STANDARD: Wie würden Sie das Verwandtschaftsverhältnis zwischen Glück und Pech beschreiben?

Ruhs: Das Pech ist der Gegensatz zum Glück, sie sind ein Paar. Das eine gäbe es ohne das andere nicht. Pech steht also für eine unglückliche Fügung.

STANDARD: Es gibt auch noch das Glück im Unglück.

Ruhs: Genau, wobei diese Zustände so wie jeder Zustand erst durch eine Differenz erfahren werden kann. Wenn es immer hell wäre, würden wir den Begriff Tag gar nicht benötigen. Nur aufgrund der Dunkelheit existiert auch das Wortpaar Tag und Nacht.

STANDARD: Gibt es Menschen, die zu Ihnen in die Praxis kommen und sich als Pechvögel bezeichnen?

Ruhs: Ja. Manche bilden es sich ein, und manche sind es wirklich. Es existieren Konstellationen, die manche wirklich zu Unglücksraben werden lassen. Diese Umstände sind abzusondern bei Menschen, die im Sinne einer pessimistischen oder sogar masochistischen Einstellung eine Opferrolle einnehmen. Solche Leute denken oft gar nicht darüber nach, wie viel sie selbst zu dieser Haltung beitragen, um diesen Opferstatus zu bewahren. Manche sagen zum Beispiel: "Was ich in meinem Leben schon alles mitgemacht habe." Dabei denken sie gar nicht, dass das "Mitmachen" eine Beteiligung an dem Unglück sein könnte. Dafür steht das "mit" bei "mitmachen".

STANDARD: Der bekannte Grafikdesigner Stefan Sagmeister hat sich in seiner Arbeit sehr intensiv mit Glück beschäftigt. Er spricht von dreierlei Glück, vom kurzem, zum Beispiel einem Orgasmus, vom mittleren, etwa einem gemütlichen Nachmittag mit einem Buch auf dem Sofa, und vom langen Glück. Dabei ginge es darum, herauszufinden, was man gut kann, was Sinn ergibt in seinem Leben et cetera. Würden Sie mit ihm d’accord gehen?

Ruhs: Ich halte das für eine grobe Einteilung, gegen die man nichts einwenden kann, außer dass ich meine, dass Glück und Orgasmus nicht ganz deckungsgleich sind. Ein Orgasmus ist ein Höchstmaß an sexueller Erregung sowie Erfüllung und sehr nah an einem momentanen Glück. Bekanntlich dauert das ja nicht so lange. Das mit dem Buch kann ich durchaus unterschreiben, und zum dauerhaften Glück möchte ich gern wiederholen, dass wir Menschen nicht wirklich fürs Glücklichsein geschaffen sind.

STANDARD: Warum nicht?

Ruhs: Unter anderem deshalb, weil wir zu jenen Lebewesen gehören – vielleicht sind wir auch die Einzigen –, die sich ihres Todes bewusst sind. Dieses Wissen um ein Ende trübt die Existenz. Wir streben im Sinne eines Todestriebs unserem Ende zu. Dieser Schatten, der uns durchs Leben begleitet, ist eher ein Dauerzustand. Meist tritt er jedoch in den Hintergrund, im Gegensatz zu anderen Gefühlen, die uns das Leben auch gibt. Ich spreche etwa vom libidinösen Trieb, der Zustände wie Lust, Freude und Glücksempfinden mit sich bringt.

STANDARD: Glück ist also sehr wandelbar.

Ruhs: Oh ja, denken Sie an Woody Allen, der sagte: "Einst war es das größte Glück, wenn jemand sagte: ‚Ich liebe dich‘, später die Info: ‚Es ist gutartig.‘"

STANDARD: Sagmeister führt auch ein Glückstagebuch, in das er seine Befindlichkeiten auf einer Skala von eins bis zehn benotet. Welche Note würden Sie Ihrem Glück gerade geben?

Ruhs: Ich müsste in diesem Fall eine "von bis"-Ziffer angeben. Und die würde zwischen drei und acht schwanken.

STANDARD: Das heißt, drei bis acht bezieht sich auf Ihr gesamtes Dasein?

Ruhs: So würde ich das sehen. Ich habe Unglücksmomente erlebt, in denen ich wirklich verzweifelt war und mir nur wünschte, aus diesen Situationen wieder herauszukommen.

STANDARD: Zum Beispiel?

Ruhs: Ich war beim Schnorcheln im Meer und wurde plötzlich von einer Strömung immer weiter aufs offene Wasser getrieben. Ich konnte nicht mehr dagegen anschwimmen, mich aber Gott sei Dank an einem mit Korallen bewachsenen Stein festhalten. Ich habe gerade noch Luft bekommen. Irgendwann setzte die Strömung aus, und es war mir möglich, zurückschwimmen. Das war auf der Glücksskala anfangs Nummer zwei, am Ende dann ganz oben.

STANDARD: War das nun Glück oder Pech oder beides?

Ruhs: Das war Glück im Sinne einer günstigen Fügung, dazu habe ich nichts beigetragen, zum Unglück der Situation aber sehr wohl.

STANDARD: Sind Sie ein Mensch, der anderen Glück wünscht?

Ruhs: Nicht überschwänglich, aber grundsätzlich schon. Ich bin ja kein Misanthrop. Ich kenne eher das Gegenteil.

STANDARD: Was meinen Sie damit?

Ruhs: Nun, dass ich meiner nicht allzu großen Zahl von Feinden Unglück wünsche. Ich glaube aber nicht daran, dass das funktioniert.

STANDARD: Was wünschen Sie Ihren Feinden? Dass sie auf einer Bananenschale ausrutschen oder Schlimmeres?

Ruhs: Na ja, sagen wir: Die Fantasiebreite ist hier nach oben hin offen. (Michael Hausenblas, RONDO, 1.12.2022)