Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan spricht während einer Pressekonferenz am Rande des G20-Gipfels in Nusa Dua, Indonesien.

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Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan zieht auch Bodenoffensiven gegen kurdische Stellungen in Syrien und dem Irak in Betracht. Es stehe außer Frage, dass man sich nicht auf Lufteinsätze beschränke, "es muss entschieden werden, wie viele Kräfte sich von den Bodentruppen beteiligen müssen, und dann werden Schritte unternommen", sagte Erdogan laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu am Montag. Indes meldete die Türkei mehrere Tote durch Raketenbeschuss aus Syrien.

Es werde weiter "abgerechnet", twitterte das türkische Verteidigungsministerium. Die Türkei war in der Nacht auf Sonntag gegen die YPG und die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK mit zahlreichen Luftangriffen im Nordirak und in Nordsyrien vorgegangen. Dabei seien mindestens 35 Menschen getötet worden, meldete die syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte. Kurdische Milizen hatten Vergeltung angekündigt. Sonntag und Montag meldete die Türkei Beschuss mit Toten und Verletzten an der Grenze zu Syrien.

Vorherige Warnungen

Erdoğan sagte, man habe weder mit den USA noch mit Russland im Voraus über die Offensive gesprochen, die Türkei müsse keine Erlaubnis einholen. Moskau und Washington hatten Ankara zuvor vor einer Offensive in Nordsyrien gewarnt. Erdoğan hatte bereits Mitte des Jahres eine solche Offensive angekündigt. Russland unterstützt im syrischen Bürgerkrieg Regierungstruppen, die USA sehen in der YPG einen Partner im Kampf gegen die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS).

Die türkische Regierung hatte ihre Luftangriffe in Zusammenhang mit einem Anschlag auf der Istanbuler Einkaufsstraße Istiklal am Sonntag vor einer Woche gebracht. Sie sieht YPG und PKK als Drahtzieher des Anschlags, beide hatten das zurückgewiesen. Die Ermittlungen in der Türkei dazu laufen noch. Die türkische Regierung stuft die YPG und PKK als Terrororganisationen ein.

Zwei Tote

Der türkische Innenminister Süleyman Soylu sagte am Montag, dass das Land von Syrien aus beschossen wurde. Dabei seien in der Provinz Gaziantep drei Menschen getötet und sechs verletzt worden, sagte Innenminister Süleyman Soylu am Montag. Der Gouverneur von Gaziantep machte die syrische Kurdenmiliz YPG für den Beschuss verantwortlich. Kurdische Aktivisten und die syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte berichteten von Schusswechseln mit kurdischen Milizen und von schwerem türkischen Beschuss im ländlichen Norden der Region Aleppo und in Kobane.

Der türkische Provinzgouverneur von Karkamis sagte, dass fünf Raketen auf die türkische Grenzregion abgefeuert worden seien. Dabei seien zwei Menschen getötet und sechs Personen verletzt worden. Der Sender CNN Türk berichtete, die Raketen seien aus der Region Kobane gekommen, die von der kurdischen Miliz YPG kontrolliert wird. Die Raketen hätten eine Schule, zwei Häuser und einen Lastwagen getroffen.

Aufruf zur Zurückhaltung

Indes rief die deutsche Regierung die Türkei zu Zurückhaltung bei ihren Luftangriffen gegen kurdische Stellungen auf. "Wir fordern die Türkei auf, verhältnismäßig zu reagieren und dabei das Völkerrecht zu achten", sagte der Sprecher des Auswärtigen Amts, Christofer Burger, am Montag in Berlin. Die Türkei und alle anderen Beteiligten sollten "nichts unternehmen, was die ohnehin angespannte Lage im Norden Syriens und Iraks weiter verschärfen würde".

Zur Achtung des Völkerrechts gehöre insbesondere, dass Zivilistinnen und Zivilisten zu jeder Zeit geschützt werden müssten, sagte Burger weiter. "Die Berichte über mögliche zivile Opfer dieser türkischen Luftschläge sind extrem besorgniserregend." Unter Hinweis auf Artikel 51 der UNO-Charta stellte der Sprecher zudem klar: "Das Recht auf Selbstverteidigung beinhaltet nicht ein Recht auf Vergeltung." Auch die Präsidentin des Europaparlaments, Roberta Metsola, rief die Türkei am Abend in Straßburg zu Zurückhaltung und der Achtung internationaler Rechte auf.

"Kriegspolitik" seit 2015

Der Irak verurteilte die Angriffe auf kurdische Gebiete. Das Land dürfe keine Arena für Konflikte und "Abrechnungen" externer Kräfte sein, hieß es in einer Erklärung des Außenministeriums. Die Entscheidung für die nunmehr fünfte Syrien-Offensive der Türkei traf Erdoğan offenbar im Flugzeug. Laut Präsidialamt unterschrieb er die Anordnung auf dem Rückweg vom G-20-Gipfel in Bali, wo er unter anderem US-Präsident Joe Biden traf. Man brauche niemandes Einverständnis, so Erdoğan am Montag. Die USA und Russland hatten Ankara zuvor deutlich von einer erneuten Offensive in Syrien abgeraten. Dass die nun ganz ohne deren Wissen stattgefunden hat, scheint einigen Experten jedoch unwahrscheinlich. Beide kontrollieren Teile des syrischen Luftraums.

Russland unterstützt im syrischen Bürgerkrieg Regierungstruppen, die USA sehen in der YPG einen Partner im Kampf gegen die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS). Adar sieht in dem türkischen Vorgehen die Fortsetzung "der Kriegspolitik und Kriegsökonomie", die der türkischen Führung ihr politisches Überleben seit 2015 gesichert habe.

Im Jahr 2015 hatte eine Reihe von Anschlägen mit vielen Toten das Land erschüttert. Mit Blick auf die Umfragen konnte die regierende AKP unter Erdoğan als Ministerpräsident die Situation damals für sich nutzen. Eine kurz zuvor verlorene Mehrheit konnte sie damals wiedererringen. (APA, 21.11.2022)