Nehmen die Britinnen und Briten allmählich Abschied von ihren Brexit-Illusionen? Und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die konservative Regierung unter Premier Rishi Sunak? Diese Fragen beschäftigen dieser Tage das politische Establishment auf der Insel, nachdem sich zuletzt viele Bürgerinnen und Bürger desillusioniert zeigten über den EU-Austritt und die neuen Handelsbarrieren immer deutlicher zutage treten.

Ist der Traum vom starken Großbritannien außerhalb der EU bald ausgeträumt?
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Weil ihm die innerparteilichen Gegner schweres Ungemach androhen, distanzierte sich der Regierungschef jüngst von angeblichen Plänen für eine Wiederannäherung an Brüssel: "Wir werden uns nicht den EU-Regeln unterwerfen."

Seit dem endgültigen Austritt des Königreichs aus Binnenmarkt und Zollunion Ende 2020 haben Millionen Menschen die Nachteile der neuen Distanz zum größten Handelsmarkt der Welt zu spüren bekommen. Kurzbesuche von Geschäftsleuten und Kunstschaffenden auf dem Kontinent erfordern neuerdings hohen bürokratischen Aufwand. Lange Warteschlangen bei der Einreise in die EU, sprunghaft verteuerte Ex- und Importe vom Kontinent, für Studierende kein Zugang mehr zum Erasmus-Austausch, für Wissenschafter der Ausschluss vom Horizon-Forschungsprogramm – für immer neue Personengruppen werden die Nachteile deutlich, die die beinharte Trennung von Brüssel mit sich bringt.

Brexit im Umfragetief

Das schlägt sich in Umfragen nieder. Die Firma Yougov fragt seit Jahren routinemäßig nach, ob die Menschen die Referendumsentscheidung noch immer für richtig halten. Lang spiegelte sich in den Ergebnissen der knappe Ausgang vom Juni 2016 (52 zu 48 Prozent) wider. Seit mehr als einem Jahr aber klafft die Schere immer deutlicher auseinander. Zuletzt mochten gerade noch 32 Prozent den Brexit gutheißen; hingegen betrachten 56 Prozent der Bevölkerung ihn inzwischen als Fehler, die restlichen zwölf Prozent zucken mit den Achseln.

Unabhängige Ökonomen warnen seit langem vor den negativen Folgen für den Außenhandel. Dieser habe durch den Brexit einen "erheblichen Dämpfer" erhalten, argumentiert nun auch die Budgetbehörde OBR, deren Aufgabe es ist, die Bilanzen der Regierung zu überprüfen.

Die bisher abgeschlossenen neuen Handelsverträge können die Probleme nicht ausgleichen, im Gegenteil. Erst vergangene Woche teilte der überzeugte Brexiteer und frühere Landwirtschaftsminister George Eustice dem Unterhaus mit, das Abkommen mit Australien sei "kein sehr guter Deal" für die britischen Bauern. Das hatte die damalige Außenhandelsministerin und nach 44 Amtstagen kläglich gescheiterte Premierministerin Liz Truss bisher ganz anders dargestellt.

Wirtschaftstreibende unzufrieden

Aus der Wirtschaft kommen zunehmend Rufe nach größerer Flexibilität bei der Einwanderungspolitik, weil in vielen Branchen, etwa in der Gastronomie, aber auch im Gesundheitssystem NHS Hunderttausende von Arbeitskräften fehlen. "Nur so bekommen wir wieder besseres Wachstum", argumentiert der Chef des Industrieverbands CBI, Tony Danker. Unter seiner Vorgängerin hatte sich die Lobbygruppe der größeren Unternehmen auf der Insel noch ängstlich aus der Brexit-Debatte herauszuhalten versucht. Bei der CBI-Jahrestagung in Birmingham musste sich Ehrengast Sunak am Montag hingegen bohrende Fragen nach seiner zukünftigen Europapolitik gefallen lassen.

Tags zuvor hatte die "Sunday Times" von angeblichen Planspielen in der Regierung geschrieben, wonach die Insel langfristig eine der Schweiz vergleichbare Stellung gegenüber Brüssel erwäge. Allerdings widersprach sich der Artikel selbst: Anders als es die zwischen Bern und Brüssel vereinbarten bilateralen Verträge vorsehen, wolle London weder die Niederlassungsfreiheit für EU-Bürger gewähren noch regelmäßige Zahlungen ins Brüsseler Budget leisten.

Versuchsballon?

Handelte es sich also nur um einen Versuchsballon der erst seit knapp vier Wochen amtierenden neuen Regierung? Sunak hatte 2016 gegen die damals vorherrschende Parteilinie den Brexit befürwortet, später aber loyal für alle Kompromissdeals der damaligen Premierministerin Theresa May gestimmt. In klarer Abgrenzung zu seinen Vorgängern Truss und Boris Johnson hat sich der 42-Jährige schon in den ersten Amtswochen positiver zu den Nachbarn Frankreich und Irland positioniert. In Dublin und Brüssel wurde sehr genau vermerkt, dass zum ersten Mal seit 14 Jahren wieder der Premierminister selbst am regelmäßigen britisch-irischen Meinungsaustausch zu Nordirland teilnahm.

Am Schicksal des britischen Teils der Grünen Insel dürfte sich letztendlich entscheiden, wie groß die politische Distanz zwischen der EU und der Brexit-Insel in Zukunft sein wird. Die Verhandlungsteams beider Seiten sollen bis April nächsten Jahres eine Reform des umstrittenen Nordirland-Protokolls aufsetzen, das einen möglichst reibungslosen Handel garantiert und die innerirische Grenze offenhält, aber beim königstreuen Teil der Bevölkerung auf Ablehnung stößt. Wie viel Handlungsfreiheit für schmerzhafte Kompromisse gewähren dem Premierminister die Brexit-Ultras in der eigenen Fraktion? Davon wird in den kommenden Wochen alles abhängen. (Sebastian Borger, 22.11.2022)