In Mexiko kann man nicht laufen. Es sei denn, man ist lebensmüde oder geisteskrank. Oder beides.

Natürlich ist das Blödsinn. Aber wenn man auf einer vierspurigen Autobahn auf dem Pannenstreifen läuft, klingt Obenstehendes nicht ganz abwegig: In Mexiko weichen Autofahrer beim Überholtwerden auf den Pannenstreifen aus. Oder verlassen sich auf Landstraßen darauf, dass der Gegenverkehr auf den Pannenstreifen zieht, wenn man selbst gerade überholt.

Das hindert "Locals" freilich nicht daran, dort Rad zu fahren, zu gehen oder einfach zu parken – und legt ein paar schlichte Wortspiele mit dem spanischen "loco" nahe.

Weil: Läuferinnen und Läufer fallen hier auf.

Foto: Tom Rottenberg

Trotzdem ist die Behauptung, dass man in Mexiko nicht laufen kann, natürlich plakativer Blödsinn. Erstens weil Mexiko nicht nur aus der Halbinsel Yucatán besteht. Und die, zweitens, weit mehr zu bieten hat als den von Cancún nach Süden bis Belize gefühlt ausschließlich geradeaus angelegten Highway 307.

Und auch der führt, drittens, nicht ausschließlich an Ur- und kultiviertem, tropischem Wald und Dickicht vorbei, sondern durch Städte, Dörfer und Siedlungen – mit Seiten- und Nebenstraßen, Wegen und Landschaft. Und endlosen Stränden: Natürlich kann man hier rennen.

Tom Rottenberg

Aber wer sich mit der in sieben (steht für "ganz viele") Blautönen schillernden Lagune von Bacalar einen Rückzugsort aussucht, der auf allen Routenplanern so angezeigt wird, als hätte die programmierende Person gerade sehr viel Spaß, darf sich nicht wundern, wenn Laufen dann tatsächlich nicht funktioniert: Da ist ein unbeschriftetes Tor im Zaun entlang der Autobahn. Wenn man hupt, macht jemand auf. Dann geht es 800 Meter auf einem Feldweg durch den Dschungel …

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… und plötzlich ist man auf einem anderen Stern. Kein Lärm, keine Menschenmassen, keine Straßenhändler, keine Kreuzfahrtschiffe, keine Busse, kein Wasauchimmer. Nur dieses Blau.

An dem stehen ein paar Hütten, eine offene, auf die Lagune hinaus gebaute,Yoga-Shalla – und in der praktizieren Menschen aus der ganzen Welt: aus Tunesien und Frankreich, aus Deutschland, Argentinien – und, eh klar, aus Mexiko, den USA.

Dass es hier außer dem Pfad zur Autobahn keine Wege gibt, irritiert niemanden. Auch wir sind ja eigentlich nicht zum Laufen gekommen, aber ganz ohne geht es halt nicht.

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Die an dieser Stelle vergangene Woche angesprochene Laufpause war aber ernst gemeint: Beine und Kopf frei bekommen, Pläne für die nächste Saison schmieden, den Fokus auf das richten, was zählt, und dem trist-kalten Nebel daheim entkommen ist eine Aufgabenstellung, die sich etwas einfacher lösen lässt, wenn das persönliche Umfeld aus Berufsfliegenden besteht und man hin und wieder mitdarf. In der Regel, weil sich in proppenvoll ausgebucht kalkulierten und daher in jedem Fall abhebenden Fliegern wider erwarten Regieplätze auftun.

Also fand ich mich plötzlich und recht unvermutet in Mexiko wieder: Ja, man kann es schlechter erwischen. Und: Nein, darüber diskutiere ich nicht.

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Touristen sind, das ist bekannt, immer nur die anderen. Doch aus dem Tross derer, die Weltwunder-Pflichtorte abklappern, kann man ausscheren. Auch wenn die Tempelanlagen von Chichén Itza oder Tulum schon frühmorgens gut besucht sind, es aber spätestens ab Mittag dröhnt wie auf einer Maturapartyreise, auch wenn man in den bekanntesten Cenoten (wassergefüllten Karsthöhlen) trockenen Fußes von Schwimmweste zu Schwimmweste übers Wasser spazieren könnte: Es gibt immer (noch) einen Plan B.

Und sogar einen Laufbezug: Die Maya kannten das Rad nicht – angeblich liefen sie von einem Ort zum nächsten. Oder schickten Boten nach dem Stafetten-System über ihre gut ausgebauten Steinwege.

Foto: Tom Rottenberg

Etwa hierher: nach Koba, einer etwas abgelegeneren Ruinenstätte. Ohne Starbucks & Co auf dem (noch) nicht asphaltierten Busparkplatz ist man hier fast alleine unterwegs. Und radelt mit grandios-rostigen Leihrädern (und der Vermutung, dass die Maya doch schon Fahrräder, diese hier, hatten) über Stock und Stein. Das geht durchaus als "Workout" durch.

Noch: Als ich vor mehreren Ewigkeiten das erste Mal in Angkor Wat war, war es noch ähnlich "wild" – bei meinem letzten Besuch war Ballermann auf dem Busparkplatz.

Nur: Mit welchem Recht soll den vielen, die den wenigen, die vor ihnen da waren, nachfolgen, das Schauen und Staunen verwehrt werden?

Foto: Tom Rottenberg

Noch dazu wo die, die heute ihren Individualtrip-"Plan B" beschwören, im Grunde das Gleiche tun: Wer, statt in der Red-Bull-Cliffdiving-Cenote bei Tulum zu baden, über eine Rumpelpistenfahrt jene Cenoten findet, in denen kein Bademeister die Einhaltung einer Schwimmwestenpflicht rigoros vollstreckt und in denen man einfach so vom wackeligen Zehn-Meter-Holzgerüst in ein beinahe schwarzes Loch springt, sorgt mit jeder Erzählung, jedem Insta-Post dafür, dass spätestens in zwei Jahren "Plan C" fällig ist.

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Was das mit Laufen, mit Sport zu tun hat? Doch einiges: Als wir nach den Maya-Pyramiden dann anderswo ans Meer, nach Mahahual, weiterfuhren, kamen wir endlich dazu, tatsächlich den Strand, die Uferstraße entlangzulaufen.

Ein lockerer Aufwachtraum: einfach in den Sonnenaufgang hinein.

Vorbei an den noch schlafenden kleinen Hotels und Restaurants. Vorbei an Fischern, die Netze und Fang von den Booten holten. Vorbei an der kleinen Yogagruppe, die um sieben Uhr von den Alternativ-Budget-Traveller-Lodge-Hüttchen zu den Kokospalmen am Strand spazierte. Vorbei an grüßenden, uns entgegenkommenden Läufern: So muss Morgenlauf.

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Doch dann, knapp oberhalb des "Faro", des Leuchtturms, sahen wir es am Horizont auftauchen. Und rasch näher kommen: ein Kreuzfahrtschiff. Das erste und an diesem Tag das einzige.

Um neun Uhr legte es an. Um zehn, wir saßen beim Frühstück, explodierte der Ort: 4.000 US-Bürger vom am Vortag in Fort Lauderdale gestarteten Schiff suchten "authentisches" Mexiko – und bekamen das globale Ballermann-Ding serviert.

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Man kann ausweichen: Wir radelten die Küste abwärts.

Am Ortsende markierte ein Schild das Ende der "betreuten" Verleihzone der Golfcarts, mit denen die "mobileren" Kreuzfahrer unterwegs waren: Wir radelten ein kleines Stück weiter.

Und liefen am Abend noch eine Runde. Als wir zurückkamen, machten sich die letzten Schiffstouristen gerade auf den Weg zu ihrer schwimmenden Stadt.

Zwei Stunden später legten sie ab: Der Abend war idyllisch, nachts hörten wir nur das Plätschern der Wellen am Strand.

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Am nächsten Morgen das gleiche Bild. Ein Sonnenaufgangslauf im Paradies. Das erste Kreuzfahrtschiff tauchte erst am Horizont auf, als wir längst mit Carolina, der Strand-Morgen-Yogalehrerin, plauderten.

Vor über 20 Jahren ist sie hier gelandet und geblieben. "Damals gab es ein Gemüsegeschäft und ein paar Fischer. Idyllisch? Ja, aber: Nur ab und zu Strom. Keine Kanalisation. Keine Infrastruktur, nichts. Bei allen Problemen, die die Kreuzer und ihr Publikum verursachen: Ohne sie gäbe es den Ort nicht mehr. Für niemanden."

Heute, sagte Carolina, würden zwei Schiffe kommen. Morgen dann vier.

Wir liefen am Abend noch einmal und reisten in der Früh ab.

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Carolina hatte uns ihren Lieblingsort an der Lagune von Bacalar ans Herz gelegt. Das "Akalki" an der Lagune von Bacalar. Der Ort mitten im Dschungel mit seiner Yoga-Shalla am Wasser.

Dass das mit dem Laufen nicht hinhauen würde, sahen wir auf den ersten Blick, probierten es aber natürlich trotzdem aus – und waren dennoch das Gegenteil von enttäuscht.

Ja klar: Man kann hier super in den Sonnenaufgang schwimmen. Viel wichtiger sind die sich ständig ändernden Farben der von sieben Cenoten (und dem Regenwasser der Halbinsel Yucatán) gespeisten Lagune. Wobei Lagune eigentlich falsch ist: Technisch gesehen ist das hier ein See.

Aber da ist noch etwas.

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Hier ist einer der wenigen Orte, an denen man Stromatolithen bei der "Arbeit" zusehen kann. Weltweit, so erzählt man es zumindest in Bacalar, gibt es nur noch ein paar Handvoll derartiger Plätze. Stromatolithen sind "biogene Sedimentgesteine", also geschichtete Kalksteine, deren oberste Schichten "biogen aktiv" sind. Also, brutal vereinfacht gesagt, Leben, so wie wir es wahrnehmen, auf unserem Planeten überhaupt erst möglich gemacht haben könnten.

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Auch wenn in der wissenschaftlichen (zumindest ansatzweise laienverständlichen) Literatur da ein paar Fragezeichen stehen, zweifelt in Bacalar niemand daran, dass Stromatolithen vor ein paar Milliarden Jahren der "Grundstein" der sogenannten "oxygenen Photosynthese" waren.

Die in den Stein-Oberflächen-"Biofilmen" eingebetteten Mikroorganismen sollen jene Prozesse ausgelöst haben, durch die Sauerstoff freigesetzt wurde und unsere Atmosphäre überhaupt erst möglich wurde.

Unumstritten ist aber etwas, was sich Normalsterblichen auf den ersten Blick erschließt: Dieser Ort, dieser See ist auf viele Arten einzigartig. Und schön.

Tom Rottenberg

Der Highway 307 vom Süden Yucatáns hinauf nach Cancún führt auch durch Playa del Carmen. Eine der touristischen Hochburgen der Region.

Am Morgen, knapp nach Sonnenaufgang, ist davon aber noch nicht viel zu spüren: Ein Hochzeitspaar posiert am Strand, eine christliche Wiedertäufer-Gemeinde führt neue Schäfchen in ihre Gemeinde ein, hier und da meditieren oder praktizieren ein paar Yoginis am Strand. Draußen, auf den freundlichen Wellen, übt jemand mit dem SUP-Board Wellenreiten.

Es ist unser letzter Morgen hier.

Tom Rottenberg

Einmal, ein letztes Mal, wollen wir laufen. So, wie es zu Hause nicht möglich ist: barfuß im Sand. Es hat 26 Grad.

Später, beim Frühstück, kommen wir mit einer "Local" ins Plaudern. In Wien hat es gerade geschneit.

Wir zeigen der Frau Laufbilder von Freunden daheim. Sie macht das internationale Zeichen für "loco" – und ist sich sicher: "In Österreich kann man nicht laufen!" (Tom Rottenberg, 22.11.2022)


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