In überfüllten Massenunterkünften kommt es immer wieder zu Drohungen und Gewalt gegen Vulnerable, etwa Homosexuelle.

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Mehrere Tage lang sei er in seiner Unterkunft immer wieder homophob beschimpft worden, erzählt Hamza C. Er habe dem Unterkunftsbetreiber davon berichtet, aber es sei nichts passiert – bis zu dem einen Sonntag im Oktober eben. C. senkt seinen Blick beim Erzählen. Er wurde wieder beschimpft. "Sie haben gesagt, ich kann kein echter Moslem sein, weil ich schwul bin." Als er nach draußen ging, um eine Zigarette zu rauchen, hätten ihn fünf Männer attackiert. "Ich wurde geschlagen und bin dabei zu Boden gegangen." Der 27-jährige Mann aus Tunesien hat Prellungen davongetragen. Danach hätten seine Angreifer noch eine Warnung ausgesprochen: "Nächstes Mal bist du tot!"

C. war bis dahin in einer Wiener Flüchtlingsunterkunft der Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen (BBU), in der damals über 370 Menschen lebten, untergebracht. Die BBU ist zuständig für die Unterbringung geflüchteter Menschen, bis sie von den jeweiligen Ländern übernommen werden. Das aber passiert aktuell nicht oder viel zu langsam, weswegen sich in den Bundesbetreuungseinrichtungen mehr Menschen befinden als geplant. Bis auf Wien und Burgenland erfüllt kein Bundesland die vorgeschriebene Aufnahmequote. Daher werden angekommene Menschen von der BBU nicht nur in Massenunterkünften, sondern zuletzt auch in Zelten untergebracht. Die BBU warnte selbst letzte Woche vor drohender Obdachlosigkeit wegen fehlender Plätze.

Versorgungsnotstand

Hamza C.s Erlebnis vom 16. Oktober zeigt ein Problem bei der Unterbringung von Flüchtlingen auf, vor dem Expertinnen und Experten schon länger warnen: der mangelhaften Berücksichtigung sogenannter Vulnerabler unter den Geflüchteten. Vulnerable Personen sind Menschen, die eine andere Geschlechterorientierung haben, Kinder, Frauen, die allein reisen, und Menschen mit psychischen oder körperlichen Vorerkrankungen oder Behinderungen. Diese haben dadurch noch mehr Bedürfnis nach Schutz und Betreuung. Die massenhafte Unterbringung von Geflüchteten ist für viele von ihnen ein Problem, der aktuelle Versorgungsnotstand der BBU verschärft die Situation zusätzlich. Sei es in aufgelassenen Werkshallen, in Zelten oder in einer leerstehenden Universität, wie in der Wiener Althanstraße, wo C. zusammengeschlagen wurde – Menschen mit besonderem Schutzbedürfnis sind auch hier nicht sicher vor Verfolgung. Das wäre aber der Auftrag, den österreichische Behörden zu erfüllen hätten.

Eine Unsicherheit, die auch der 34-jährige Raouf A. M. erleben musste. So wie C. ist auch er wegen seiner sexuellen Orientierung nach Österreich geflüchtet. A. ist aus Algerien. Nach seiner Ankunft in Österreich vor fast einem Jahr musste er zwei Monate lang im oberösterreichischen Frankenburg in einer Asylunterkunft verbringen. Gemeinsam mit rund 300 anderen Männern wurde er in einer aufgelassenen Fabrikshalle außerhalb von Frankenburg untergebracht, mit Afghanen, Syrern, Algeriern. Raouf A.M. betont, er habe gleich bei seiner Ankunft die Behörden darüber informiert, dass er homosexuell sei. Dennoch sei er in der Massenunterkunft gelandet. Aus Angst versteckte er seine Papiere unter dem Bett, sodass die anderen in seiner Unterkunft nichts von seiner Homosexualität mitbekommen würden. "Ich konnte kaum glauben, dass ich hier in Europa bin und noch immer dieselben Probleme habe, nur weil ich schwul bin."

"Flucht noch immer nicht zu Ende"

Marty Huber kennt das Problem. Sie ist Beraterin bei der Organisation Queer Base in Wien, die sich vor allem für die Rechte von Geflüchteten aus der LGBTIQ-Community (schwul, lesbisch, trans, inter oder queer) einsetzt. "Für viele queere Geflüchtete heißt das, dass ihre Flucht noch immer nicht zu Ende ist, solange sie in solchen Unterkünften sein müssen." Dort könnten sie sich nicht sicher fühlen vor homophoben oder transfeindlichen Übergriffen, wie in ihren Herkunftsländern. Zwar habe sich im letzten Jahr der Kontakt zur BBU intensiviert, es habe auch Sensibilisierungsschulungen für BBU-Mitarbeiter gegeben. Laut Huber aber muss an der Früherkennung gearbeitet werden. "Ähnlich wie bei Menschen, die von Menschenhandel betroffen sind, braucht es schon beim ersten Behördenkontakt Prozesse, die Vulnerable sofort unter besonderen Schutz stellen." Zwar gäbe es bereits kleinstrukturierte Unterkünfte, extra für vulnerable Geflüchtete. Die werden aber ausschließlich in Wien angeboten.

Cornelia Wallisch, Sprecherin der BBU, ist über den Übergriff auf Hamza C. in der Unterkunft Althanstraße informiert. Zum Zeitpunkt des Angriffs sei bereits eine alternative Unterbringung für den Mann organisiert gewesen, schreibt sie auf Anfrage des STANDARD. C. sei aber nicht angetroffen worden, sodass ihm dies nicht hätte mitgeteilt werden können. Generell habe die BBU auch "getrennte Unterbringungen, angepasste und die individuellen Vulnerabilitäten berücksichtigende Zimmerbelegungen", um Menschen im Asylsystem zu schützen. Die Massenunterkünfte seien, wie auch die aktuell kritisierten Zelte, nur eine vorübergehende Lösung. Die Dauer der Unterbringung in Massenunterkünften "hänge an externen Faktoren", so Wallisch.

Feldbett an Feldbett

Da die Übernahme vieler Geflüchteter in die Grundversorgung vieler Bundesländer nicht ausreichend stattfinde, sei es in den großen Bundesbetreuungseinrichtungen "zu überdurchschnittlich langen Aufenthalten von mehreren Wochen gekommen." Um den Aufenthalt erträglicher zu gestalten und für "das größtmögliche Maß an Privatsphäre", gebe es "bauliche Maßnahmen und eine kojenartige Unterteilung der Halle". Handyvideos aus der Massenunterkunft in der Wiener Althanstraße sprechen eine andere Sprache: Auf dem gefliesten Gang der ehemaligen Universität reihen sich dutzende Feldbetten aneinander, von Raumtrennern keine Spur. Einer Aussendung der Stadt Wien zufolge werde die Unterkunft in der Althanstraße zukünftig als "Ankunftszentrum" für Menschen aus der Ukraine genutzt.

Wie wichtig der Schutz für Vulnerable aber wäre, weiß Nora Ramirez Castillo. Sie ist Psychotherapeutin bei der Beratungsstelle Hemayat, dem Wiener Betreuungszentrum für Folter- und Kriegsüberlebende. "Diese Menschen haben oft schon in ihrer Heimat oder auf der Flucht Gewalterfahrungen gemacht und weisen deswegen Traumatisierungen auf." Für sie wäre es wichtig, möglichst schnell in Unterkünfte zu kommen, in denen sie bleiben können, einen Rückzugsort haben und Selbstbestimmung erleben können. Das Leben in solchen Massenunterkünften aber sei "total viel fremdbestimmt", sagt die Psychologin. Weiter gedacht hieße das, es brauche insgesamt "rasche und transparente Asylverfahren". Studien zufolge zeigten sich Traumafolgestörungen oft erst das erste Mal durch lange Asylverfahren, die für Geflüchtete eine massive Verunsicherung bedeuteten.

Fehlende medizinische Infrastruktur

Verbesserungsbedarf gibt es offenbar auch bei der Unterbringung HIV-positiver Geflüchteter in der Bundesbetreuung. Die Aids Hilfe Wien wandte sich zuletzt mit einem Brief an die BBU. "In den letzten Wochen häufen sich bei uns die Meldungen, dass HIV-positive Menschen in BBU-Einrichtungen fernab von Ballungszentren versorgt werden." Weit weg von Städten aber sei die Situation für die erkrankten Geflüchteten "prekär", so die Aids Hilfe. Die Betroffenen brauchen auf HIV spezialisierte Ärzte oder Ärztinnen für die notwendigen Untersuchungen. Daher wird in dem Brief angeregt, sie "in Ballungszentren mit guter medizinischer Anbindung an HIV-Behandlung und -Therapiemöglichkeiten" unterzubringen.

Für Lukas Gahleitner-Gertz von der Asylkoordination ist das Problem ein strukturelles. Das Grundversorgungssystem sei chronisch unterfinanziert, und "die Ersten, die das zu spüren bekommen, sind die Vulnerablen", weiß der Jurist. Wie Marty Huber von der Queer Base fordert auch die Asylkoordination eine Clearingstelle, um bereits zu Beginn ihres Aufenthalts in Österreich spezielle Bedürfnisse Geflüchteter zu erkennen. Aktuell seien etwa über 1.000 minderjährige Geflüchtete in Erstaufnahmestellen untergebracht, die "ganz einfach nicht kindergerecht sind", so Gahleitner-Gertz. Doch es fehle nicht nur am Geld, sondern auch am politischen Willen.

Zumindest für Hamza C. hat die Verunsicherung vorerst ein Ende. Er konnte nach dem Angriff auf ihn die Massenunterbringung hinter sich lassen und in eine kleinstrukturierte Flüchtlingsunterkunft in Wien übersiedeln. (Christof Mackinger, 23.11.2022)