Eine warme Jacke für kalte Tage. Nicht für jeden eine Selbstverständlichkeit.
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Heute gab’s für mich nur Joghurt, aber Maus hat Tortelloni bekommen", schreibt eine Mutter. Anderswo ist zu lesen: "Heute ist mein vierter Tag mit Kartoffeln und Quark, um über die Runden zu kommen."

Vom Flaschensammeln wird erzählt und wie unangenehm das ist. Aber: "Ich habe 6,70 Euro zusammen." Und Frau S. ist froh, dass es jetzt immer schon so früh dunkel ist. Es sei für sie "die optimale Möglichkeit, ungesehen in Mülleimer zu leuchten, ob dort Pfandflaschen drin sind."

Wütende Tweets

Alle diese Tweets haben eines gemeinsam. Sie sind bei Twitter unter dem Hashtag #IchBinArmutsbetroffen zu lesen. Urheberin ist Anni W., eine Mutter aus Nordrhein-Westfalen. Doch hinter dem Hashtag steckt keine ausgeklügelte Strategie, sondern vielmehr Frust.

"Ich war so wütend", erinnert sich Anni W. an jenen Tag im Mai. Da hatte sie zwei Artikel mit dem Tenor gelesen: Wer mit Hartz IV, der Grundsicherung in Deutschland also, nicht auskomme, der könne nicht mit Geld umgehen. Also tippte sie ins Handy: "Hi, ich bin Anni, 39, und habe die Schnauze voll! Ich lebe von Hartz IV, und es reicht ganz einfach nicht! Nein, ich kann keine weiteren Kosten senken. Nein, ich gebe kein Geld ,unnütz‘ aus." Dann setzte sie den Hashtag #IchBinArmutsbetroffen und traf einen Nerv.

Äpfel statt der teuren Birnen

Es folgten Tweet um Tweet aus ganz Deutschland, im September wurde mal gezählt, da waren es 500.000. "Manchmal kann ich das noch gar nicht begreifen", sagt Anni W. Sie weiß aber eines: "Ich will mich nicht mehr verstecken." Jeder kann wissen, wie sie lebt. 400 Euro blieben im Monat, nach Abzug der Fixkosten, für sich und ihren zehnjährigen Sohn.

"Söhnchen braucht Vitamine", erklärt sie. Aber sie habe ihm klargemacht: "Nur Äpfel, nicht Birnen, die sind zu teuer." Eine neue Winterjacke ist auch vonnöten. Wie sie die zahlen soll? "Ich weiß es einfach nicht", sagt Anni W. 200 Euro mehr hätte sie gerne im Monat, dann ginge es ein wenig leichter.

Der Anfang einer Bewegung

Geh doch arbeiten! Wer will, kann arbeiten, das hört sie oft. "Ich will ja, aber ich kann nicht", lautet ihre Antwort. Sie leidet an Arthrose in der Lendenwirbelsäule und Depressionen. Von Krankheit berichten unter #IchBinArmutsbetroffen viele Menschen.

Für sie interessiert sich mittlerweile auch die Wissenschaft. "Das könnte der Anfang einer Bewegung sein", sagt Holger Schoneville, Juniorprofessor für Sozialpädagogik an der Universität Hamburg, der die Tweets untersucht.

"Um die 16 Prozent der Menschen sind von Armut betroffen, bis zu 20 Prozent von sozialer Ausgrenzung bedroht, aber das sagt wenig darüber aus, was das im Alltag bedeutet", meint er. Denn: "Wir wissen aus der Forschung, dass Armut mit Scham verbunden ist. Armutsbetroffene versuchen, so zu erscheinen wie alle anderen. Das macht Armut häufig unsichtbar."

Nun aber würden Menschen über ihre Anstrengungen berichten. Dabei helfe die Anonymität des Internets, sagt Schoneville. Er vermutet, dass der große Zulauf für den Hashtag auch Corona sowie den steigenden Kosten im Rahmen der Inflation geschuldet sei: "Die Pandemie war für viele Menschen auch eine soziale Krise, die mit Verlust von Einkommen und teilweise auch Arbeitsplätzen einherging. Die Inflation verschärft die Lebenssituation jetzt noch einmal. Davon betroffen sind insbesondere Menschen, die schon zuvor wenig hatten oder nur gerade soeben über die Runden kamen."

Mehr Sichtbarkeit

Deshalb engagiert sich auch Susanne Hansen. 2019 war die Hamburgerin nach einer Trennung in die Armut gerutscht. "Wir haben alle eine Geschichte. Ich kenne niemanden, der es sich ausgesucht hat", sagt sie und betont: "Ich kämpfe mich Schritt für Schritt aus der Armut heraus."

Aber sie wolle auch für ihre Kinder da sein, die unter der Trennung sehr gelitten hätten. Hansens Sohn hat während der Pandemie Depressionen bekommen und muss erst wieder in eine reguläre Schule eingegliedert werden. "Ich will ihn auf einen guten Weg bringen, damit er später einmal kein Sozialfall wird", sagt seine Mutter. Und so nimmt sie den permanenten Stress in Kauf, die Angst, dass was kaputtgeht oder jemand krank wird.

Der Hashtag helfe ihr, sagt Hansen: "Früher haben sich viele geschämt und versteckt. Heute wissen wir, dass wir nicht alleine sind." Ihr Wunsch für die Zukunft: "Es hören und sehen uns zwar mehr Menschen jetzt. Aber die Politik muss uns auch noch ernst nehmen."
(PORTFOLIO, Birgit Baumann, 22.12.2022)