Ungarns Premier Viktor Orbán ließ das Foto mit dem großungarischen Schal selbst über Instagram verbreiten, die Aufregung darüber war wohl einkalkuliert.

Instagram

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán hat mit einer ungewöhnlichen Aktion für diplomatische Aufregung gesorgt. Am Rande eines Fußballspiels hatte der Rechtsnationalist am Montag mit einem Schal posiert, auf dem Ungarn in den Grenzen vor dem Ersten Weltkrieg gedruckt war.

In der Darstellung waren Gebiete von Rumänien, der Slowakei sowie von Serbien und der Ukraine als Teil eines magyarischen Großreiches abgebildet. Auch das österreichische Burgenland war auf Orbáns Schal Teil Ungarns. Eben alle Gebiete der Habsburgerreiches, die damals als Transleithanien galten – sich also aus Wiener Perspektive jenseits des Flusses Leitha befanden.

Nach der Niederlage der Doppelmonarchie im Ersten Weltkrieg wurden in den Pariser Vorortverträgen 1919/1920 sowohl die ungarische wie auch die österreichische Reichshälfte drastisch verkleinert, bislang beherrschte Völker wie die Tschechen und Slowaken wurden unabhängig. Während in Österreich vor allem die Abtrennung Südtirols an Italien schmerzte, wurde die Abtretung ungarischer Territorien an die Nachbarländer vor allem in der Zwischenkriegszeit während der Diktatur von Miklós Horthy (1920–1944) betrauert. Viele Ungarn haben sich immer noch nicht mit dem Zerfall der Donaumonarchie, in dessen Zuge zwei Drittel des ungarischen Staatsgebietes verlorengingen, abgefunden.

Einkalkulierte Aufregung

Orbán wollte bislang keine Grenzen verschieben, er macht allerdings wiederholt Stimmung mit revisionistischen Reflexen – und zeigt sich auffallend verständnisvoll für die Positionen von Kreml-Chef Wladimir Putin, der den russischen Überfall auf die Ukraine mit der früheren Ausdehnung des Zarenreichs begründete. Aufsehen und Widerspruch wegen der Schal-Episode waren von Orbán offenkundig kalkuliert, der Premier verbreitete die Aufnahmen selbst über Social Media.

Für den Osteuropa-Experten Gerhard Mangott sendet Orbán mit seinem Auftritt innen- und außenpolitische Botschaften. "Nach innen war der Schal eine relativ billige Art, um Zustimmung zu erlangen", sagte der Innsbrucker Uni-Professor zum STANDARD. Seine Provokation richte sich andererseits an die Adresse seiner Nachbarländer, am stärksten gegen die Ukraine. Der ungarische Premier sei in Osteuropa wegen seiner Haltung zu Putin weitgehend isoliert.

Entschuldigung gefordert

Tatsächlich kam umgehend Protest aus Rumänien, wo heute die größte ungarische Minderheit lebt. Die Regierung sprach von einer "revisionistischen Äußerung". Das ukrainische Außenministerium forderte umgehend eine "Entschuldigung" und eine Klarstellung, wonach es keinerlei Forderungen Budapests nach ukrainischem Staatsgebiet gebe. Der kroatische Regierungschef Andrej Plenković erklärte, territoriale Ansprüche an sein Land seien "absolut inakzeptabel". Staatspräsident Zoran Milanović sah die Causa lockerer: Orbáns Ambitionen in Kroatien beschränkten sich darauf, "dass er im August einen Monat lang an der Adria herumkreuzt und wir uns zum Abendessen treffen".

In Österreich sorgte die revisionistische Duftmarke des Ungarn-Premiers für gemischte Reaktionen. Während das Kanzleramt die Sache nicht kommentieren wollte, reagierte das Außenministerium mit Humor: "Eine eilig durchgeführte Recherche hat ergeben, dass Transleithanien nur in Karten von vor rund 100 Jahren gefunden wurde", hieß es auf STANDARD-Anfrage aus dem Außenamt mit einem Augenzwinkern. "Wir werden unsere ungarischen Nachbarn bei nächster Gelegenheit über diese Entwicklung informieren."

"Unerträgliche Provokation"

Bei den Grünen, der zweiten Regierungspartei, nimmt man Orbáns Schal-Auftritt hingegen äußerst ernst. "Das ist keine Dummheit, sondern eine unerträgliche Provokation", sagte der Nationalratsabgeordnete Michael Reimon. Orbán solle sich bei seinen Nachbarländern entschuldigen.

"Peinliche Show"

Hart fiel die Kritik an Orbán auch von der SPÖ und den Neos aus. "Orbán stellt damit auch Österreichs territoriale Souveränität infrage", erklärte Jörg Leichtfried, der europapolitische Sprecher der Sozialdemokraten. Er forderte die Regierung zu einer scharfen Reaktion auf wie der Einbestellung des ungarischen Botschafters. Neos-Generalsekretär Douglas Hoyos sprach von einer "peinlichen Show" Orbáns. Dieser würde seine europäischen Nachbarn als "Komplizen oder Feinde" darstellen, "je nachdem, wie es ihm innenpolitisch gerade nützlich ist".

Bei der FPÖ, wo man seit Jahren die Nähe zum starken Mann aus Budapest sucht, gibt man sich schmallippig und schnippisch. Eine Bewertung wolle man erst geben, nachdem Orbán seine "Motive" erkläre, diesen Schal zu tragen, hieß es aus dem Büro von FPÖ-Chef Herbert Kickl auf STANDARD-Anfrage. (Oliver Das Gupta, 22.11.2022)