Am Dienstag kamen mehr als 400 Migranten und Flüchtlinge auf diesem rostigen Schiff auf der griechischen Insel Kreta an.

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Am Freitag ist es mal wieder so weit: Bei einem Sonderrat der EU-Innenminister soll es erneut einen Vorstoß zu einem gemeinsamen Vorgehen in der Flüchtlings- und Migrationspolitik geben, schließlich ist die Zahl der illegalen Einreisen in die Union heuer drastisch gestiegen. EU-Innenkommissarin Ylva Johansson warb im Vorfeld für das von Brüssel vorgeschlagene Asyl- und Migrationspaket und kündigte einen Aktionsplan für die Mittelmeerrouten an.

Es ist beileibe nicht das erste Mal seit Ausbruch der großen Flucht- und Migrationsbewegungen 2015/16, dass sich Europa um eine Lösung bemüht. Und man kann wohl schon jetzt sagen, dass das Treffen so wie frühere ähnliche Zusammenkünfte ohne konkrete Ergebnisse enden wird.

Doch lässt sich diese Krise überhaupt lösen? Oder hatte der renommierte bulgarische Politologe Ivan Krastev recht, als er 2016 meinte: "Es gibt Krisen, die können nicht gelöst, nur überlebt werden – die Flüchtlingskrise ist eine davon."

Kürzere Asylverfahren

Lässt man die Realität für einen kurzen Moment außer Acht, könnte eine Lösung folgendermaßen aussehen: Die EU erreicht an ihren Außengrenzen in Zusammenarbeit mit den Nachbarländern einen effizienten und gleichzeitig menschenrechtskonformen Grenzschutz. Jene, die dort ankommen und um Asyl ansuchen, erhalten ein rasches Asylverfahren, das nicht länger als ein paar Monate dauert.

Die Migrationsexpertin Melita H. Šunjić hat jüngst in einem Gastkommentar für den STANDARD EU-Asylverfahren in Aufnahmelagern an den Außengrenzen vorgeschlagen, die die 27 nationalen Asylsysteme ersetzen. Das würde sicherlich helfen, um die Dauer der Verfahren zu verkürzen.

Sofortige Rückführung

Jene, die einen negativen Asylbescheid erhalten, werden sofort in ihr Heimatland zurückgeführt. Dies schreckt andere ab, die illegal in die EU einreisen wollen, und führt auch dazu, dass den Schleppern die Kundschaft abhandenkommt.

Die dafür notwendigen Rückführungsabkommen erreicht die Union durch verstärkte wirtschaftliche Kooperationen und legale Einreisemöglichkeiten für die Herkunftsländer. Ohne Letzteres würden die jeweiligen Regierungen wohl den Zorn der Bevölkerung auf sich ziehen, ist diese doch oft auf die Geldüberweisungen der in Europa lebenden Verwandten angewiesen. Ein Beispiel: In Mali protestierte im Dezember 2016 die Bevölkerung, nachdem ein Rückführungsdeal mit der EU bekannt wurde – so vehement, dass die Regierung das Abkommen wieder platzen ließ.

Die heikle Frage der Verteilung

Legale Einreisemöglichkeiten in die EU führen zu der wohl brisantesten Frage in dieser Angelegenheit: Welche Mitgliedsländer nehmen diese Menschen auf? Im Gegensatz zu den aktuellen unkontrollierten Migrationsbewegungen hätte man in diesem Fall eine gewisse Kontrolle, welche und wie viele Menschen einreisen. Abgesehen von den bisher geplanten (und gescheiterten) Verteilungsschlüsseln nach Bevölkerungsgröße, die wohl die fairste Lösung wären, könnte man auch kreativ werden, um zur Aufnahme der legal Eingereisten zu animieren.

Der deutsche Migrationsforscher Steffen Angenendt schlug einmal einen EU-Wettbewerb für Gemeinden vor. "Die, die Flüchtlinge aufnehmen, werden finanziell belohnt. Damit schaffen wir einen Anreiz für Kommunen, die zum Beispiel dringend Einwohner brauchen", sagte er 2016 dem STANDARD.

Auf Bedürfnisse der Länder eingehen

Oder man geht auf die besonderen Bedürfnisse gewisser EU-Länder ein. Der heuer verstorbene Demetrios Papademetriou, einst Präsident des Migration Policy Institute, sagte einst dem STANDARD, dass Länder wie Ungarn oder Polen "offensichtlich etwas gegen Muslime haben. Es gibt aber auch genügend Christen, die etwa vor dem IS flüchten. Dann sollen sie halt die aufnehmen, das ist besser als nichts."

Zusammengefasst also könnte ein Mix aus effektivem Grenzschutz, raschen Asylverfahren, sofortigen Rückführungen und legalen Einreisemöglichkeiten, verbunden mit einer fairen Verteilung der Eingereisten, der europäischen Flucht- und Migrationskrise dauerhaft ein Ende setzen. Und es ist nicht so, dass Brüssel nicht daran arbeitet.

"Verbindliche Solidarität"

Bereits im Herbst 2020 präsentierte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen das besagte Asyl- und Migrationspaket, das unter anderem effizientere Grenzverfahren und Rückführungen, besseren Grenzschutz, verstärkte Kooperation mit Drittstaaten und das neue Prinzip der "verbindlichen Solidarität" beinhaltet. Und schon weit früher, am 16. Dezember 2005, formulierten die Staats- und Regierungschefs der EU-Länder einen ähnlichen Maßnahmenmix als Gesamtansatz zur Migrationsfrage.

Doch unterzieht man diese Pläne einem Realitycheck, wird schnell klar, weshalb das von Brüssel vorgeschlagene Asyl- und Migrationspaket noch immer nicht von den EU-Mitgliedern abgenickt wurde.

Was etwa gemeinsame rasche EU-Asylverfahren betrifft, so will kaum eine europäische Regierung die brisanten Asylagenden an Brüssel abtreten. Es wäre unter anderem ein gefundenes Fressen für die Rechtsparteien im jeweiligen Land, die, simpel ausgedrückt, dann behaupten können, "nicht wir, sondern Brüssel entscheidet, welche und wie viele Ausländer wir aufnehmen müssen".

Verteilungssystem illusorisch

Die enge Kooperation mit den Herkunftsländern inklusive Rückführungsabkommen scheitert an der Frage der legalen Einreisemöglichkeiten. Kaum ein EU-Land will in dieser seit 2015 herrschenden politischen Stimmung mit steigenden Ankünften auch noch legale Einreisen in einem größeren Ausmaß ermöglichen. Man kommt dann erst gar nicht zum wohl größten Zankapfel, der Frage der Verteilung der Eingereisten. Solange es nicht überraschende Regierungswechsel unter anderem in Ungarn, Polen und Italien (und auch Österreich) gibt, ist solch ein Verteilungssystem illusorisch.

Auch eine – menschenrechtskonforme – Kooperation mit den Nachbarländern, um einen effizienten Außengrenzschutz zu ermöglichen, ist schwer umzusetzen. Zwar besteht beispielsweise ein Flüchtlingsabkommen mit der Türkei, doch funktioniert dieses mehr schlecht als recht. Außerdem ist man von den Launen eines Recep Tayyip Erdoğan abhängig, der Flüchtlinge und Migranten bereits öfter instrumentalisiert hat. Im Februar 2020 etwa ließ er die Grenzen zur EU kurzfristig für Migranten und Flüchtlinge öffnen.

Ebenso ist eine vernünftige Zusammenarbeit mit Libyen angesichts der konstant labilen Machtverhältnisse im Land nicht möglich. Über Libyen verläuft die weiterhin stark frequentierte zentrale Mittelmeerroute.

Weitere Pushbacks

So bleibt es wohl auch nach dem EU-Innenministerrat am Freitag beim Herumlavieren Europas in der Flüchtlings- und Migrationspolitik. Mangels gesamteuropäischer Strategie wird es weiter fragliche Deals mit libyschen Milizen geben, und es werden weiter Pushbacks, also die asylrechtlich verbotene Zurückweisung von Schutzsuchenden, an den EU-Außengrenzen durchgeführt werden.

Ein einziger – nicht gesamteuropäischer – Hoffnungsschimmer in akuten Krisenfällen ist wie in der Vergangenheit eine sogenannte Koalition der Willigen, also einiger EU-Länder, die die Sache selbst in die Hand nehmen und zusätzliche Belastungen auf sich nehmen. "Das ist die einzige Chance", sagte der Migrationexperte Gerald Knaus im vergangenen Jahr dem STANDARD. "Die Alternative ist der Status quo, und der wird immer schlimmer. Geht es so weiter, werden wir in zwei Jahren keine Genfer Flüchtlingskonvention mehr haben." (Kim Son Hoang, 25.11.2022)