Wie in den sogenannten Parlors musiziert wurde, zeigte die Universität für Musik und darstellende Kunst Wien in einem Projekt von Carola Bebermeier und Chanda VanderHart.
Foto: Thomas Stuppacher

Wurde Amerika durch Europa zivilisiert? Dass erst die Einwanderungsbewegung aus der Alten Welt Kultur in eine vorher noch wilde Landschaft brachte, ist eine bis heute verbreitete wie umstrittene Auffassung: Nicht nur die amerikanische indigene Bevölkerung ist da anderer Ansicht. Ein unlängst abgeschlossenes Forschungsprojekt der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien hat sich gezielt mit dem Musikkulturtransfer zwischen den Kontinenten beschäftigt. Auch die dabei gewonnenen Erkenntnisse brechen mit verfestigten Vorstellungen.

"In der bisherigen Forschung war es Konsens, dass die Musikkultur relativ spät und, wenn früh, dann eher spärlich aus Europa in die USA gewandert ist", sagt Projektleiterin Melanie Unseld. Demnach habe die Musikkultur anfangs keine große Rolle gespielt. Dieser Impuls sei erst gekommen, als Mitte des 19. Jahrhunderts die europäische Prominenz lukrative Konzertreisen in Amerika unternahm. Das Team um Unseld bezweifelte diese Annahme: "Wir gingen davon aus, dass der kulturelle Austausch viel früher stattgefunden hat, weil es eine hohe Mobilität von Menschen gab, die Musik salopp gesagt mit im Gepäck hatten."

Musikalische Gäste

Und das waren nicht nur Virtuosen, wie Antonín Dvořák, dessen dreijähriger USA-Aufenthalt ab 1892 ihn zu seiner berühmten neunten Symphonie inspirierte: "Unter den Menschen, die im Rahmen der Migrationsbewegungen von Europa nach Amerika gekommen sind, haben viele ihre musikalischen Fähigkeiten, Noten und Instrumente mitgebracht." In der Untersuchung, die vom Wissenschaftsfonds FWF und dem Fulbright-Programm gefördert wurde, fokussierte man daher zwei Sphären: Carola Bebermeier befasste sich mit der amerikanischen Salonkultur, während Clemens Kreutzfeldt den Musikalienhandel in Übersee analysierte.

Unseld erklärt diesen Ansatz so: "Man muss sich vergegenwärtigen, dass es gerade in der frühen Phase der Migration in den USA die Institutionen noch gar nicht gab, in denen Musikkultur hätte stattfinden können." Konservatorien und Konzertsäle fehlten Anfang des 19. Jahrhunderts nämlich. "Da ist uns klargeworden, dass wir in ganz andere Räume schauen müssen." Und einer dieser Räume war der Musikalienhandel, wo nicht nur Produkte an die Frau und den Mann gebracht, sondern genauso Informationen ausgetauscht wurden: Hier wurde Post bearbeitet, über Musik diskutiert, es wurden Konzerte veranstaltet, um jene Musik, die es in Warenform nur als Noten und Instrumente zu kaufen gab, einem Publikum hörbar gemacht vorzustellen.

"Unter den Menschen, die im Rahmen der Migrationsbewegungen von Europa nach Amerika gekommen sind, haben viele ihre musikalischen Fähigkeiten, Noten und Instrumente mitgebracht", so Projektleiterin Melanie Unseld.
Foto: Thomas Stuppacher

Gegenseitiger Austausch

"Der Musikalienhandel war somit vor allem in den USA ein sehr bunter und aktiver Ort." Davon profitierte der andere Kontinent mit: "Viele US-amerikanische Musikalienhändler sind immer wieder auf Europareisen gewesen, um Neuheiten einzukaufen, sich zu informieren und dort mit den Kolleginnen und Kollegen in Kontakt zu bleiben." Natürlich taten die Händler das nicht aus reiner Nächstenliebe, der kommerzielle Aspekt war wohl die wichtigste Triebfeder für diesen Austausch: Schließlich wollte man in erster Linie wissen, was Erfolg hat und was sich gut verkauft – und das auf beiden Seiten des Atlantiks.

In dieser Epoche nach der Französischen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts werden im alten Europa nämlich die höfische Kultur und die damit verbundene Patronage und finanzielle Förderung immer weiter zurückgedrängt. Welche Musik gespielt wird, entscheidet in der aufkommenden Marktwirtschaft nicht mehr der Monarch, sondern vor allem der Konsument. So ist in dieser Phase ein reger Austausch zwischen den einst auch für Musik wichtigen Handelsstandorten London und Boston dokumentiert.

"Die Zeitungen schrieben, dass man in den Vereinigten Staaten gar keine Musik benötige, weil die mit ganz anderen Problemen befasst gewesen seien. Aber das haben die Verlage und Instrumentenbauer deutlich anders gesehen, weil die USA ein guter Absatzmarkt waren." Die Auffassung, dass die amerikanische Musikkultur entweder alles aus Europa übernommen habe oder gerade mit der Populärmusik einen ganz eigenen Weg gegangen sei, dieses Narrativ konnte man laut Unseld somit in dieser Forschungsarbeit differenzieren.

Beim Musizieren kamen verschiedene Bevölkerungsschichten zusamen. So schritt der Demokratisierungsprozess voran.
Foto: Thomas Stuppacher

Orte des Miteinanders

Manche falsche Annahme zu widerlegen gelang zugleich bei der Betrachtung der Musiksalons: Deren europäischen Geschichte ist gut erforscht — insbesondere in Wien, wo sie besonders prägend waren. Die Geschichte der "Parlors" dagegen wurde vor Carola Bebermeiers Studie noch wenig untersucht. Dabei ist die Salonkultur unmittelbar mit dem Aufstieg der US-amerikanischen Kultur verknüpft: Musik als Inbegriff von Zivilisation und Kultiviertheit spielte eine wesentliche Rolle bei der Ausprägung eines bürgerlichen und demokratischen Selbstverständnisses.

Das gilt im Fall der Salons überraschenderweise auch für die Südstaaten, die in jener Zeit besonders von der Diskriminierung schwarzer Menschen geprägt waren. Dem europäischen Vorbild nach galten Salons als Orte für intersektionale Kommunikation, an denen Grenzen wie Stand oder Religion aufgehoben waren oder verschwammen. In jener Sklavenhaltergesellschaft, die die Konföderation im Bürgerkrieg zu verteidigen versuchte, waren sie daher eigentlich kaum denkbar: "Es ist erstaunlich zu sehen, dass und wie früh es in den Südstaaten Räume gab, in denen das – wenngleich sicherlich nie flächendeckend — funktioniert hat."

Gegenbeispiele gebe es sehr wohl, aber der Blick in die Vergangenheit zeigt, dass sich bereits damals immer wieder Menschen mit verschiedenen Hautfarben getroffen haben, um gemeinsam Musik zu machen. "Diese Orte, wo zusammen musiziert wurde, spielten somit eine wichtige Rolle für den Demokratisierungsprozess." Musik kam folglich eine Rolle zu, die über reine Unterhaltung und Freizeitbeschäftigung hinausging und das Leben in den USA entscheidend veränderte. (Johannes Lau, 01.01.2023)