Mosche Guttman wartet auf den Bus, um am Markt einzukaufen. Nur fünf Stunden zuvor waren an zwei verschiedenen Bushaltestellen mit Nägeln besetzte Sprengkörper explodiert. Mindestens 17 Menschen wurden verletzt – ein 16-Jähriger sogar so schwer, dass er bald danach verstarb. Die Bilder rufen traumatische Erfahrungen aus der Zeit der Zweiten Intifada vor zwanzig Jahren wach.

Sicherheitskräfte an einem der Anschlagsorte
Foto: Reuters / Ammar Awad

Habe er keine Angst, jetzt in einen Autobus einzusteigen? "Überhaupt nicht", sagt Moshe Guttman. Der Mittsiebziger richtet seinen Zeigefinger gen Himmel: "Mein Boss passt auf mich auf." Wenn es Gottes Wille sei, dass er sterbe, dann solle es eben so sein. "Die Polizei kommt ohnehin immer zu spät."

Zwei Detonationen

Am Mittwoch kam sie tatsächlich zu spät, während in den vergangenen Monaten laut Geheimdienst dutzende Anschläge vereitelt worden seien. Mitten im dichten Morgenverkehr, an einer Bushaltestelle mit vielen Pendlern am Rande Jerusalems, ging gegen sieben Uhr ein Sprengsatz hoch. Rund 30 Minuten später detonierte an einer anderen Haltestelle im Norden Jerusalems eine zweite Bombe.

Seit Jahresbeginn kamen 29 Israelis bei Attentaten ums Leben, doch diesmal waren es keine Schuss- oder Messerattacken, die wenig Planungsaufwand erfordern. Bei den Attentaten am Mittwoch kamen ferngezündete Sprengsätze zum Einsatz, die offenbar unter dem Radar der Geheimdienste bei den Haltestellen platziert wurden.

Vieles deutet darauf hin, dass ein größeres Terrornetzwerk dahintersteckt – also Hamas oder Islamischer Jihad. Beide bekannten sich zwar nicht zu den Anschlägen, sendeten aber alsbald Jubelmeldungen aus. "Die kommenden Tage werden für den Feind intensiv und schwierig werden", erklärte ein Sprecher der Hamas. Die Zeit sei reif, um "konfrontationsbereite Zellen in ganz Palästina" zu gründen.

Israels Polizeichef Kobi Shabtai rief indes die Bevölkerung auf, besonders wachsam zu sein. Michael Milstein, Experte für Sicherheitsstudien an der Reichman University, hält weitere Anschläge für möglich. Er sieht vor allem in der jungen Generation in Jenin und Nablus viel aufgestauten Zorn – nicht nur über die israelische Besatzung, sondern auch der Palästinenserbehörde gegenüber.

Terrorgruppen wie Hamas nutzten diese Gefühlslage für eigene Zwecke. Statt Raketen aus dem Gazastreifen schicken sie junge Männer.

Entführung aus Spital

Auf eine neue Stufe der Eskalation deutet auch ein schwerer Vorfall in der Nacht auf Mittwoch im Westjordanland hin: Ein 18-jähriger Israeli drusischer Abstammung wurde von Palästinensern aus einer Intensivstation eines Krankenhauses in Jenin entführt. Laut ersten Berichten sei der Teenager zum Tatzeitpunkt bereits tot gewesen – sein Vater, der Zeuge der Entführung wurde, beteuerte aber, dass sein Sohn noch einen Puls gehabt habe.

Die Eskalation kommt zu einem politisch heiklen Moment: Die aktuelle Regierung steht kurz vor ihrem Ende, ein neues Rechtskabinett unter Benjamin Netanjahu liegt im Endspurt der Regierungsbildung. Die daran beteiligte rechtsextreme Partei Jüdische Selbstbestimmung unter Itamar Ben-Gvir ließ am Mittwoch verlauten, wie sie den Terror zu bekämpfen gedenkt: durch gezielte Tötungen und ein Aushungern der Palästinenserbehörde.

Für Experte Milstein ist das genau der falsche Weg: "Wenn das passiert, dann droht ein neuer Anstieg der Gewalt." (Maria Sterkl aus Jerusalem, 24.11.2022)