Plötzliche Hindernisse am Trail, wie hier im Werbe-Bild des Herstellers Bosch, verlieren dank ABS an Schrecken.

Foto: Bosch

Der italienische Hersteller Blubrake kooperiert künftig mit dem japanischen Shimano-Konzern in Sachen ABS.

Foto: Blubrake

Bei Bosch findet das System Platz in einem kleinen, unscheibaren Kästchen an der Gabel.

Foto: Bosch

Nach einer deftigen Hüttenjause geht es frisch gestärkt über den Forstweg zurück ins Tal. Für viele Hobbyradlerinnen und Hobbyradler ist das der Moment, in dem die erholsame Mountainbikerunde zum gefährlichen Extremsport wird. Das schwere E-Bike und der abschüssige Schotterweg sind jene Kombination, die immer öfter zu schweren Unfällen führt. Denn die Hydraulikbremsen moderner E-Bikes verlangen viel Übung und Fingerspitzengefühl. Nur allzu schnell blockiert das Vorderrad und verliert die Traktion – der Sturz ist unvermeidbar.

Hier erklärt Daniel Klemme, Mitentwickler des Bosch-ABS für E-Bikes, die neue Technik im Detail.
Bosch eBike Systems

Es ist ein kleines, unscheinbares schwarzes Kästchen vorne links an der Federgabel, das den großen Unterschied bedeuten und solche Unfälle künftig verhindern soll. Der deutsche Bosch-Konzern hat zusammen mit seinem Partner, dem schwäbischen Bremsenhersteller Magura, im vergangenen Sommer die zweite Generation seines Antiblockiersystems (ABS) für Pedelecs, wie E-Bikes im Fachjargon heißen, vorgestellt. DER STANDARD erhielt in der vergangenen Woche Gelegenheit, ein damit ausgestattetes E-Mountainbike zu testen. ABS wird in der Fahrradbranche als eine der großen Innovationen heiß diskutiert. Viele Fachleute sehen darin einen "Gamechanger", der E-Biken nachhaltig sicherer machen wird. Wieder andere, wie der Sprecher des Verkehrsclubs Österreich Christian Gratzer, warnen vor überbordender Technik, die Benutzer in falscher Sicherheit wiege. Denn Hauptunfallursache im Alltagsverkehr sei nach wie vor schlechte Rad-infrastruktur und die beste Unfallvermeidung sei achtsame Fahrweise.

Stürze und Überschläge werden verhindert

Schon bei der ersten Testrunde auf dem E-Bike wird klar, was viele am ABS begeistert. Es kostet anfangs Überwindung, auf einer Schotterpiste zu beschleunigen, um dann kraftvoll die Bremshebel bis zu den Griffen durchzudrücken. So ein Manöver endet in der Regel mit einem Sturz. Doch diesmal nicht: Praktisch unmerklich, im Bruchteil einer Sekunde, reagiert das ABS und greift helfend in das Bremsmanöver ein. Bevor es zum gefährlichen Blockieren des Vorderrades kommt, öffnet sich die gezogene Bremse von selbst und sorgt dafür, dass die Traktion nicht verlorengeht. Der Reifen gräbt sich förmlich in den Untergrund, und man kommt ungewohnt rasch zum Stillstand, ohne die Kontrolle zu verlieren.

Das Kuratorium für Verkehrssicherheit hat schon 2021 das ABS für E-Bikes getestet – damals noch die erste, etwas klobigere Generation von Bosch.
Kuratorium für Verkehrssicherheit

Das ABS am E-Bike funktioniert ähnlich wie bei Autos und Motorrädern, allerdings nur am Vorderrad. Denn dort wird am Rad die meiste Bremskraft und Stabilität gebraucht. Das Hinterrad verliert durch die Verlagerung des Schwerpunktes beim Bremsen relativ schnell an Traktion, und bisweilen ist das Blockieren hinten sogar gewollt.

Klein, aber wirkungsvoll

Anders als die erste Generation des Fahrrad-ABS, die Bosch 2018 auf den Markt gebracht hat, ist das neue System deutlich kleiner und ausgereifter. Neben dem beschriebenen Kästchen an der Gabel deuten nur zusätzliche schwarze Sensorenscheiben an den beiden Bremsrotoren auf das ABS hin. Durch vergleichende Messungen am Vorder- und Hinterrad erkennt die Software, wann die ABS-Unterstützung gebraucht wird. Am Lenker-Display weist eine Kontrollleuchte aus, ob das System aktiviert ist.

Die Bosch-Software unterscheidet am E-Mountainbike drei verschiedene Modi, wie Entwickler Daniel Klemme erklärt. "Allroad" für den Alltagsgebrauch wie etwa auf Forstwegen. In diesem Modus reagiert das ABS sofort, wenn sich das Hinterrad vom Boden löst, wodurch Überschläge bei Vollbremsungen verhindert werden. "Trail" dient zum sportlichen Fahren auf Singletrails und erlaubt wiederum das Hinterradversetzen. Im "Off"-Modus ist das ABS abgeschaltet.

Vom Lastenrad bis zum Mountainbike

Zudem bietet Bosch eigene ABS-Modelle für Lastenräder an. Der Cargo"-Modus ist auf die Eigenschaften dieser Radtypen zugeschnitten. Denn Lastenräder sind deutlich schwerer, bringen aber zugleich unbeladen weniger Gewicht und damit Traktion aufs Vorderrad. Schließlich gibt es auch noch den "City"-Modus für Alltagsräder, wie Klemme erklärt. Dabei greift das ABS stärker ein, etwa bei sogenannten Schreckbremsungen.

Am Test-Mountainbike überzeugte der Allroad-Modus auf Forstwegen. Selbst bei sehr heftigen Bremsmanövern bricht das Vorderrad nicht mehr aus, und es ist praktisch unmöglich, das Hinterrad durch Bremsen anzuheben. Überschläge werden so ausgeschlossen. Im Trail-Modus merkt man viel weniger vom ABS, aber selbst dort überraschte das System an extrem steilen oder sehr rutschigen Stellen, die man mit gezogener Vorderbremse am Limit fahren kann, ohne in Sturzgefahr zu geraten.

Konkurrenz aus Italien

Neben Bosch arbeitet auch der in Mailand ansässige Hersteller Blubrake seit Jahren am ABS für E-Bikes. Im Sommer 2022 gaben die Italiener überraschend ihre Kooperation mit dem japanischen Shimano-Konzern bekannt. Zusammen will man künftig der deutschen Konkurrenz Paroli bieten.

Die Mailänder von Blubrake haben 2018 ihr erstes ABS für E-Bikes auf den Markt gebracht. Mittlerweile kooperiert man mit Shimano und hat ebenfalls Generation zwei am Markt. Der Fokus der Italiener liegt auf Alltagsrad- und Lastenradverkehr.
blubrake

Blubrake brachte 2019 sein erstes ABS auf den Markt und hat kürzlich ebenfalls die zweite und deutlich verbesserte Version für verschiedene Radtypen präsentiert, wie Sprecherin Ginevra Gargantini erzählt. Die Blubrake-Hardware ist etwas größer als die von Bosch, dafür ist sie in den Fahrradrahmen integrierbar. Aktuell verbauen laut Blubrake acht Hersteller, darunter Bulls, Stromer und Bianchi, in ausgewählten Modellen das italienische ABS.

Ab 2023 bei mehreren Herstellern erhältlich

Anders als das System von Bosch hat jenes von Blubrake nur am vorderen Bremsrotor eine zusätzliche Sensorscheibe. Die fürs ABS nötigen Vergleichsdaten kommen von einem weiteren Geschwindigkeitssensor, der im Rahmen verbaut ist. Und das Blubrake-System ist mit allen gängigen E-Bike-Antrieben kombinierbar. Jenes von Bosch wird vorerst nur bei E-Bikes mit Boschmotoren sowie Magura-Bremsen verbaut. 2023 werden die Hersteller Cube, KTM, Focus, Riese & Müller sowie Kalkoff das Bosch-ABS in ausgewählten Modellen verbauen.

Nachrüstbar wird es ABS für Fahrräder in absehbarer Zeit nicht am Markt geben – weder von Bosch noch von Blubrake. Wer ein E-Bike kauft, in dem ABS verbau t ist, muss derzeit mit Mehrkosten zwischen 300 und 500 Euro rechnen – das hängt vom jeweiligen Radhersteller ab. Ob es sich im sportlichen Segment durchsetzt, wird abzuwarten sein. Im Alltags- und Freizeitbereich könnte es vielen die Angst vor der Abfahrt oder plötzlichen Bremsmanövern nehmen und damit sicher auch Unfälle vermeiden helfen. (Steffen Kanduth, 26.11.2022)