Chelsea Manning, Amerikas bekannteste Whistleblowerin, ist müde. Immer wieder stockt der zarten blonden Frau, die den STANDARD an einem sonnigen Novembernachmittag in ein Hamburger Hotel zum Interview geladen hat, die Stimme. Seit zwei Monaten tingelt die ehemalige Datenanalystin der US-Armee nun schon durch Europa, um ihr Buch vorzustellen, das dieser Tage in deutscher Übersetzung erschienen ist: "README.TXT", benannt nach jenem geleakten Dokument, mit dem die heute 34-Jährige — damals noch unter männlicher Identität als Bradley Manning — der Welt 2010 die brutale Kriegsführung der USA im besetzten Irak schmerzhaft genau vor Augen führte.

"Collateral Murder", das bekannteste Video der insgesamt 750.000 von Manning aus dem Irak geschmuggelten Dokumente, zeigt die tödlichen Schüsse einer Hubschrauberbesatzung auf unbewaffnete Iraker, darunter zwei Reuters-Journalisten, 2007 in Bagdad.
TheWikiLeaksChannel

Während sie von den einen als Heldin und Pionierin der Whistleblower-Szene verehrt wurde, weil sie die Wahrheit über den schmutzigen Krieg ans Licht brachte, galt sie Armee und Regierung als Verräterin – und diese bestraften Manning hart: Drei Monate nach der spektakulären Veröffentlichung wird sie enttarnt und auf einer US-Basis im Wüstenemirat Kuwait in einem Käfig isoliert, 2013 schließlich von einem Militärgericht zu 35 Jahren Haft verurteilt.

Das harte Verdikt sollte nicht die letzte spektakuläre Wendung im Leben der Chelsea Manning bleiben: Am Tag der Urteilsverkündung erklärte Manning, eine geschlechtsangleichende Behandlung beginnen zu wollen. 2014 wurde auch von Amts wegen aus Bradley Chelsea. An seinem letzten Tag im Amt setzte Präsident Barack Obama ihre Strafe schließlich aus – nach etwas mehr als sieben Jahren kam Chelsea Manning 2017 frei. Heute lebt sie in New York.

In ihrem Buch schildert Manning, wie sie von einem Sohn eines prügelnden Vaters und einer Alkoholikerin erst zum Computernerd und Datenanalysten der US-Armee wurde, wie sie sich Stück für Stück ihrer Transidentität bewusst und schließlich zu Amerikas bekanntester Whistleblowerin wurde.

STANDARD: Ihre Geschichte schien schon bisher öffentlich bekannt zu sein, auf der ganzen Welt wurden Zeitungsseiten gedruckt und Fernsehsendungen über Ihre Enthüllungen, Ihren Prozess und schließlich Ihren Wandel vom Mann zur Frau gedreht. Was wollten Sie da noch ergänzen?

Manning: Als ich Ende 2014 im Gefängnis begonnen habe, an dem Buch zu schreiben, ging es mir vor allem darum, so viele Erinnerungen an meine Kindheit und Jugend wie möglich aufzuschreiben, weil ich Angst hatte, sie zu vergessen, wenn ich wirklich 30 Jahre eingesperrt bin. In der Bibliothek des Gefängnisses (in Fort Leavenworth, Kansas, Anm.) gab es einen Computer, auf dem man aber nichts speichern konnte, also musste ich die Seiten immer ausdrucken, fast wie bei einer Schreibmaschine. Ich hatte das Gefühl, dass inmitten all der großen Figuren, die sich zu meiner Geschichte geäußert haben – Institutionen, das Militär, Minister, Präsidenten –, meine eigene Sicht bisher nicht erzählt wurde. Ich wollte meinen Kampf um meine Identität, meine Suche nach Stabilität und nach einem Platz in der Welt darstellen.

Chelsea Manning über ihr Buch "README.TXT", das im Verlag HarperCollins nun in deutscher Übersetzung erschienen ist: "Für mich ist mein Buch mehr ein Coming-of-Age-Werk als ein Non-Fiction-Thriller."
Foto: Matt Barnes

STANDARD: Ihre Suche nach Stabilität beschreiben Sie als prägenden Zustand Ihrer Kindheit und Jugend zwischen sexueller Unsicherheit, einem prügelnden Vater und einer alkoholkranken Mutter. Warum hat diese Suche Sie dann ausgerechnet zum Militär geführt?

Manning: Mein Vater war bei der Navy, ich wollte zu den Marines, was gleichzeitig ein kleiner rebellischer Akt als auch dem zugegeben naiven Wunsch geschuldet war, mir die Liebe meines Vaters zu verdienen. Weil im Rekrutierungsbüro gerade niemand von den Marines da war, wurde es eben die Army.

Ich war in der Zeit wohnungslos, meine Familie hatte mich rausgeschmissen, ich hatte viele kleine Jobs – bei Starbucks, in einem Kleidungsgeschäft, alles neben dem College. Gleichzeitig war das auch die Zeit, als ich zum ersten Mal die Möglichkeit verspürt habe, trans zu sein. Ich habe mich in der Zeit des Irakkriegs verpflichten lassen, damals wurden die Truppen gerade aufgestockt. Jeden Abend wurde beim Abendessen bei meiner Tante über den Krieg gesprochen, das war damals das große Ding. Ich wollte ein Teil davon sein, weil ich nicht wusste, was sonst meine Rolle im Leben sein könnte.

Manning, damals noch unter dem männlichen Vornamen Bradley als Soldat registriert, auf Irak-Einsatz.
Foto: imago stock&people

STANDARD: Im Irak haben Sie dann, wie Sie beschreiben, den Horror des anonymen Tötens erlebt. Irakisches Leben war Ihren Beschreibungen zufolge nicht allzu viel wert. Was hat diese Ignoranz mit Ihnen gemacht?

Manning: Es waren nicht alle böse dort. Es hat eine Zeit gedauert, bis ich die Komplexität begriffen habe. Sowohl im Militär als auch im Gefängnis habe ich die Erfahrung gemacht, dass es unter den Beschäftigten dort drei Typen Menschen gibt. Ein Drittel hat gute Absichten und ist schockiert über die Art und Weise, wie die anderen zwei Drittel agieren. Von denen genießen die einen ihre Autorität, die es ihnen ermöglicht, anderen Menschen Böses anzutun, und die anderen tun es ganz einfach für Geld und schauen weg.

Ob das, was ich beobachtet habe, Kriegsverbrechen waren oder nicht, stand für mich gar nicht im Vordergrund, ich wollte einfach das wahre Gesicht der asymmetrischen Kriegsführung einer Besatzungsmacht im 21. Jahrhundert zeigen. Als Datenanalyst habe ich dieses hässliche, brutale Gesicht Tag für Tag 14 Stunden lang als eine Art mathematisches Problem bearbeitet. Am Ende gehören diese Daten aber zum Leben von Menschen, zu ihrer Realität, ihren Hoffnungen und Träumen.

STANDARD: Sie waren aber vermutlich nicht der einzige Mensch in der US-Armee, dem dieses Gesicht der asymmetrischen Kriegsführung aufgefallen ist. Warum haben gerade Sie die Berichte geleakt?

Manning: Das weiß ich nicht. Ich kann so gut wie ausschließen, dass ich der Einzige war, der über eine Veröffentlichung nachgedacht hat. Vielleicht gab es ja schon vor mir Versuche, und ich hatte einfach nur Glück, dass es funktioniert hat. Von Mut möchte ich nicht sprechen. Als ich zum Analysten ausgebildet wurde, war ich sehr entschlossen, das so gut wie möglich zu machen, Mathematik einzusetzen, um gute Dinge im Irak zu vollbringen. Meine Kollegen, die schon öfter auf Einsätzen waren, hatten mich gewarnt, ich wüsste nicht, worauf ich mich einlasse. Und es hat gestimmt: Ich hatte mich immer als gebildeter und gut informierter Bürger gefühlt – in Wahrheit habe ich aber erst erkannt, womit wir es im Irak zu tun hatten, als ich dort angekommen bin.

STANDARD: Hatten Sie nicht Angst, dass Sie Menschen in Gefahr bringen, Iraker etwa, wenn Sie die geheimen Berichte von dort veröffentlichen?

Manning: Klar verstehe ich diese Befürchtung, doch als die zuständige Abteilung im Verteidigungsministerium die Leaks einschätzen musste, kam man dort zum Schluss, dass niemand geschädigt wurde. Ich hatte auf die Daten, die Menschen persönlich identifizierbar machen, gar keinen Zugriff, weil in den von mir veröffentlichten Berichten die Personen immer nur mit Nummern, nicht aber mit Namen genannt wurden. Diese waren unter noch strengerer Geheimhaltung als jene Daten, zu denen ich Zugang hatte. Wären diese geleakt worden, wäre wirklich Schaden entstanden.

Das Schicksal Chelsea Mannings bewegt bis heute viele Menschen.
Foto: Brendan Smialowski / AFP

STANDARD: Im Buch beschreiben Sie, wie schwer es war, Ihre Enthüllungen Medien zuzuspielen: Weder die "Washington Post" noch die "New York Times" zeigten sich anfangs interessiert, erst mithilfe von Julian Assanges Enthüllungsplattform Wikileaks kamen sie an die Öffentlichkeit. Hat sich die Aufmerksamkeit der Medien seither verändert?

Manning: Alles hat sich verändert: die Medienstrukturen, die Nutzung von verschlüsselter Kommunikation, vor allem aber unser Zugang zu Informationen. Ich habe heute als Zivilistin mithilfe meines Laptops viel mehr Informationen etwa über die russische Invasion in der Ukraine als 2010, als ich Geheimdienstanalyst im Irak war. Wenn man weiß, wonach man suchen muss, ist die Menge an Information, die man findet, unglaublich.

STANDARD: Was schließen Sie daraus?

Manning: Wir leben im Zeitalter der radikalen Transparenz, die alte Geheimhaltungspolitik der Regierungen ist Vergangenheit. Heute geht es vor allem darum herauszufiltern, welche Information tatsächlich akkurat und verifizierbar ist. Diese gigantische Informationsmenge einzuordnen, wo wir in allem, was wir tun, Spuren und Daten hinterlassen, ist in meinen Augen die größte Aufgabe der kommenden Jahrzehnte. Wir sind an einem Punkt, wo böswillige Akteure, etwa Regierungen, die eine Invasion oder eine ethnische Säuberung planen, dies offen tun können, ohne sich um Geheimhaltung zu kümmern – auch deshalb, weil es ohnehin immer Leute gibt, die behaupten, dass die Invasion oder die ethnische Säuberung doch gar nicht existiert.

Ihr Buch widmete Chelsea Manning, hier auf einem selbstgemachten Bild mit Perücke zu sehen, dem Kampf junger Transgender-Personen gegen Diskriminierung.
Foto: Ejército de EEUU vía AP, archivo

STANDARD: Heißt das, dass es etwa in der russischen Armee gar keine Whistleblower braucht, um zu erfahren, was wirklich los ist in der Ukraine?

Manning: Nein, weil die Information ohnehin verfügbar ist. Russland hat, so wie andere Länder auch, in den vergangenen Jahren viel mehr Geld in Desinformation investiert als in Geheimhaltung. Russland war da sicher am innovativsten und hat sich diese Taktiken am effizientesten zunutze gemacht. Wenn es damit erfolgreich ist, werden in Zukunft immer mehr Staaten versuchen, es ihm hier gleichzutun. Das alarmiert mich, weil ich nicht in einer Gesellschaft leben will, in der die ganze Zeit mit Lügen und falschen Beschuldigungen gearbeitet wird. Ich hatte schon 2010 Angst, dass man mir nicht glaubt oder dass es einfach allen egal ist. Heute, wo mehr Information verfügbar ist als jemals zuvor, ist das ja zum Teil schon Realität geworden.

2017 kam Chelsea Manning aus dem Gefängnis in Fort Leavenworth frei.
Foto: REUTERS/Nick Oxford

STANDARD: Sie wurden für Ihre Leaks hart bestraft. Hätten Sie Ihre Pläne überdacht, wenn Ihnen die Konsequenzen bewusst gewesen wären?

Manning: Ich war damals 22 Jahre alt und absolut überzeugt von dem, was ich mache. Fest steht aber, dass ich überhaupt nicht vorhergesehen habe, was mir bevorsteht. Was mir passiert ist, ist bisher in keinem anderen Leak-Prozess geschehen. Ich wusste, dass Daniel Elsberg (Whistleblower, der 1971 in den "Pentagon Papers" die Täuschung der US-Öffentlichkeit über den Vietnamkrieg aufdeckte, Anm.) nicht ins Gefängnis musste. Der Fall Thomas Drake (er stand 2010 wegen Leaks zum Thema Überwachung durch den US-Geheimdienst NSA vor Gericht, Anm.) war mir auch bekannt, er wurde auf Bewährung verurteilt.

STANDARD: Womit hatten Sie denn gerechnet?

Manning: Ich dachte, ich verliere vielleicht meinen Job und meine Sicherheitsfreigabe, was damals auch schon schlimm gewesen wäre für mich, weil ich mir ja mit dem Irak-Einsatz meine Karriere im Geheimdienstsektor aufbauen wollte. Ich kann noch immer nicht fassen, wie schlimm es dann schon in der Untersuchungshaft für mich wurde. Ich dachte nicht, dass eine demokratische Regierung Menschen in einen Käfig mitten in der Wüste sperrt. Damals hatte ich einfach noch viel zu viel Vertrauen in das System. (Florian Niederndorfer, 25.11.2022)