Die alte Dame schweigt – auch am 37. Sitzungstag, als Staatsanwältin Maxi Wantzen ihr Plädoyer verliest. Irmgard F., geboren 1925, muss sich seit Oktober 2021 in der norddeutschen Kleinstadt Itzehoe vor der Jugendkammer des Landgerichts verantworten: wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 11.000 Fällen. Die deutsche Staatsanwaltschaft legt ihr zur Last, "in ihrer Funktion als Stenotypistin und Schreibkraft in der Lagerkommandantur des ehemaligen Konzentrationslagers Stutthof, zwischen Juni 1943 und April 1945 den Verantwortlichen des Lagers bei der systematischen Tötung von dort Inhaftierten Hilfe geleistet zu haben".

Der Prozess gegen Irmgard F. ist der voraussichtlich letzte NS-Prozess – das mediale Interesse daran hält sich trotzdem in Grenzen.

Irmgard F. vor Gericht.
Foto: Marcus Brandt / POOL / AFP

Mehr als 110.000 Menschen haben die Nazis nach Stutthof verbracht. Wenigstens 65.000 überlebten diese Enklave des Mordens an der Baltischen See nicht. SS-Chef Heinrich Himmler stufte Stutthof Anfang 1942 zum KZ hoch. Der erste Kommandant, Max Pauly, übernahm einige Monate später das KZ Neuengamme. Für ihn rückte Werner Hoppe nach, dem die Angeklagte direkt zugearbeitet hat. Den Prozessbeginn am 30. September hatte F. durch Flucht per Taxi torpediert. Nach ihrer raschen Festnahme im nahen Hamburg noch am selben Abend feierten Rechtsradikale sie als "Rebellin von Itzehoe".

Was genau ist damals passiert in Stutthof? Bereits am ersten Tag des deutschen Überfalls auf Polen am 1. September 1939 ließ Albert Forster, NSDAP-Gauleiter im Gebiet Danzig, mit Fahndungslisten "polnische Banditen" festnehmen, etwa 1.500: Geistliche, Intellektuelle, männliche Jugendliche. 150 von ihnen fanden sich am nächsten Morgen in einem knapp 40 Kilometer entfernten Waldgebiet zur Zwangsarbeit wieder. Wenig später schließlich entstand hier das erste große Lager in Osteuropa, das am 9. Mai 1945 als letztes KZ befreit wurde – zusammen mit mehr als 200 Nebenlagern.

Überfordertes Gericht

In den vergangenen Jahren fanden zwei Stutthof-Prozesse statt. Das Verfahren gegen den SS-Mann Johann Rehbogen 2017 im westdeutschen Münster wurde wegen Verhandlungsunfähigkeit eingestellt. 2019 und 2020 stand der SS-Wachmann Bruno Dey in Hamburg vor Gericht, er erhielt zwei Jahre auf Bewährung.

Der Prozess in Itzehoe läuft schleppend. Der vorsitzende Richter Dominik Groß erscheint oft überfordert. Bisher hat das Gericht nicht einmal die wichtigste Expertin einbestellt, die international anerkannte Historikerin Danuta Drywa: Sie arbeitet seit 44 Jahren in Stutthof, leitet das Archiv, hat zum fraglichen Zeitraum über "Jews in Stutthof" intensiv veröffentlicht, eine Ausstellung konzipiert. Stattdessen verlas – an 17 Verhandlungstagen – ein deutscher Historiker überwiegend Quellen von Tätern – aus dem Archiv.

Deutsche Juristen im ehemaligen KZ Stutthof im heutigen Polen.
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Die "Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg hatte bereits 2015/2016 Vorermittlungen angestoßen, die dazu abgeordnete Richterin Henriette Freudenberg stellte vor Ort schnell fest: Eine Unterschrift der Schreibkraft des Kommandanten ist nicht zu finden. Außer Täterdokumenten hat sie ebenso Zeugnisse Überlebender aus dem Archiv einbezogen, die das Grauen schildern. Die Richterin wurde allerdings in Itzehoe erst in der 32. Sitzung befragt. Wissenschaftliche Gutachten zu Folgen des Terrors, zum Trauma der Überlebenden, sind gar nicht eingeplant.

Unendlicher Schmerz

Ab Mitte 1943, F. ist bereits Schreibkraft von Lagerkommandant Hoppe, kommen erste größere Deportationen aus anderen Lagern. "Schlimmer als Auschwitz", dieser Satz findet sich häufiger in Quellen, aber auch in Aussagen von Josef Salomonovic, der heute in Wien lebt. 1938 in Ostrava geboren, kam er mit Eltern und Bruder vom weit bekannteren Lager Auschwitz nach Stutthof. Man lockte den Vater in die Falle, versprach ihm Medikamente zur Stärkung. In der "Krankenstation" setzten sie ihm eine Phenolspritze.

Josef Salomonovic überlebte Stutthof – und lebt heute in Wien.
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Ausführlich hat Salomonovic in Itzehoe das ihm Zugefügte geschildert. Acht Lager überlebte er als Kind – unendlicher Schmerz, der nicht vergeht. Der pensionierte Ingenieur hob das Bild seines ermordeten Vaters in Richtung der Angeklagten hoch. Am Ende weinte er. Im Publikum machte sich Entsetzen breit, auch über die Art der Befragung. Nicht einmal für ein Glas Wasser sorgte das Gericht. Weitere sieben Überlebende wurden via Zoom befragt. Auch sie berichteten von unvorstellbaren Grausamkeiten, Perversionen, zeigten Verzweiflung – und Stärke.

Ab Herbst 1944 kam immer öfter die Gaskammer als Mordwerkzeug zum Einsatz, das Zyklon B lieferte die Firma Tesch und Stabenow aus Hamburg. Oft reichte die Kapazität nicht. SS-Männer erfanden daher das zynisch benannte "Strickstrumpfkommando": Sie warben jüdische Frauen an, versprachen leichte Arbeit, drückten ihnen, am hinteren Ende des Geländes, vor Waggons der lagereigenen Kleinbahn, Nadeln in die Hände, halfen scheinbar liebenswürdig beim Einsteigen. Nach einer Runde hielt die Kleinbahn in der Nähe von Gaskammer und Krematorium. Arbeitssklaven erblickten beim Öffnen der Waggons nur Leichen. Gas war eingeleitet worden.

Im hinteren Raum des Krematoriums befand sich ein vorgebliches Arztzimmer, in dem SS-Männer aus dem Hinterhalt Häftlinge erschossen. Schließlich waren auch die Kapazitäten des Krematoriums erschöpft. Häftlinge mussten Scheiterhaufen errichten, Tag und Nacht war Brandgeruch zu vernehmen.

Zahlen des Grauens

1944 kamen aus Auschwitz 23.566 jüdische Menschen, von ihnen waren 21.817 Frauen. Allein von Juli 1944 bis 8. Mai 1945 starben Schätzungen zufolge 27.000 Menschen, davon 6.000 Frauen vom 24. Januar bis zum 23. April '45. Von 65.000 registrierten Opfern waren 28.000 jüdisch. Etwa 11.000 Menschen wurden in andere Lager verbracht.

Zu den Überlebenden gehören zwei Frauen, die Wien verbunden waren: Gertrude Schneider (1928–2020) und Shoshana Rabinovici (1932–2019). Schneider, geboren in Wien, wurde 1942 nach Riga deportiert, Rabinovici überlebte den Nazi-Terror erst in Wilna, später in Riga. Die Väter von beiden wurden ermordet.

Beide Frauen überlebten mit ihren Müttern auch Stutthof. Schneider kam zurück nach Wien, emigrierte wenig später in die USA. Sie wurde zur ersten Historikerin der Verbrechen in Riga, schrieb auch über Stutthof, lehrte als Professorin in New York. 1994 nahm sie erneut die österreichische Staatsbürgerschaft an, blieb aber in den USA. In ihrer Rede im Wiener Parlament, am 5. Mai 2017, gedachte sie ihres Vaters: "Es tat weh, und es wird immer weh tun." Rabinovici lebte in Tel Aviv und in Wien. Ihre Erinnerungen hat sie in dem Buch "Dank meiner Mutter" dokumentiert, ab 2013 wirkte sie in dem Theaterstück "Letzte Zeugen" ihres Sohnes Doron Rabinovici mit.

65.000 Menschen wurden in Stutthof ermordet, fast die Hälfte davon waren Jüdinnen und Juden.
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Eklat vor Ort

Christoph Rückel, Anwalt von fünf der insgesamt 29 Überlebenden, die als Nebenkläger auftreten, forderte bereits zu Beginn des Prozesses, das Gericht solle in Stutthof "die Örtlichkeiten in Augenschein nehmen". Erst nach dem 33. Prozesstag, am 4. November, nahmen Prozessbeteiligte, ohne Angeklagte, eine Teilbesichtigung vor. Ein Eklat begleitete diese "Inaugenscheinnahme": Bereits vorab berichteten Mitarbeiterinnen der Gedenkstätte, das deutsche Gericht habe versucht, eine Sperrung des Geländes für den Tag zu erwirken. Vor Ort, auf polnischem Staatsgebiet, versuchte der deutsche Richter Groß am 4. November zwei deutsche Beobachtende des Prozesses von der Begehung fernzuhalten. Die Staatsanwältin kontrollierte den Eingang der früheren deutschen Kommandantur.

Bei dem späteren Rundgang zeigte die polnische Gruppe deutlich Missfallen, was auf Verständnis von Vertretern der Nebenklage traf. Bereits in der Kommandantur stand als Expertin nicht etwa die Archivleiterin Danuta Drywa im Vordergrund. Auch beim anschließenden Rundgang blieben sie und andere der polnischen Gruppe im Abseits. Der bevorzugte Historiker dozierte, was der Richter umgehend ins Diktiergerät sprach: vor Orten wie dem Scheiterhaufen – gespenstische Szenen.

Kein Zweifel

Die mit der Erstermittlung beauftragte Richterin Freudenberg hatte ihre präzisen Schilderungen mit einem ethischen Resümee beendet: So habe sich "aus meiner Sicht ergeben, wenn auch neutrale Handlungen in einer Institution geschehen, die auf Verbrechen ausgerichtet sind, dann verliert nach meiner Sicht jede Tätigkeit ihre Neutralität".

Staatsanwältin Maxi Wantzen lässt keine Zweifel an der Schuld der Angeklagten aufkommen.
Foto: Marcus Brandt / POOL / AFP

In ihren Plädoyer vom 22. November ließ Staatsanwältin Wantzen keinen Zweifel an der Schuld der Angeklagten aufkommen, führte dazu detailliert aus: F. hat fast alles sehen können, muss durch ihre Tätigkeit darüber hinaus in vieles eingeweiht gewesen sein. Aber, fragte Wantzen, hatte Irmgard F. infolge ihres Alters von 19 Jahren und angesichts des damaligen Frauenbildes eine rechtliche "Eigenständigkeit"?

Jugendstrafe für 97-Jährige gefordert

Die Staatsanwältin fordert "eine Jugendstrafe von zwei Jahren unter Aussetzung der Vollstreckung zur Bewährung wegen Beihilfe zum heimtückischen Mord in 300, heimtückischen und grausamen Mord in 1.076 sowie grausamen Mord in 9.108 tateinheitlich verwirklichten Fällen und in weiteren fünf versuchten Fällen grausamen Mordes", wie es im Juristendeutsch heißt.

Anwalt Rückel stimmt zwar den Schilderungen der Gräueltaten zu, drückt aber zugleich Befremden aus: Eine "Bewährung" sei "nicht angemessen".

Ein Urteil im vermutlich letzten NS-Prozess wird frühestens für Ende Dezember erwartet. (Brigitta Huhnke aus Itzehoe, 26.11.2022)