So kann Nasser Mohamed durch Frisco laufen. Durch Doha nicht.

Foto: Nasser Mohamed

Wer verstehen will, warum die Regenbogenbinde für Deutschlands Fußballer so ein großes Thema geworden ist, der wird bei Nasser Mohamed fündig. Der in San Francisco lebende Arzt hat sich als erster homosexueller Katarer geoutet, während der WM liest er auf Instagram täglich Berichte von Landsleuten vor, die noch nicht geflüchtet sind.

"Angst dominiert mein Leben", sagt einer. "Meine Familie sagt immer wieder, dass LGBT-Menschen ins Gefängnis gehören und umgebracht werden sollten", erzählt ein anderer. Ein Mann berichtet, wegen seiner Ohrringe drei Stunden von der Polizei verhört worden zu sein. Zwischendurch spielt Nasser Mohamed Morddrohungen vor, die ihn aus der Heimat erreichen.

In Katars Gesellschaft gilt für LGBTQI-Personen wie im ganzen arabischen Raum das Prinzip "Don’t show, don’t tell". Offiziell existieren nur heterosexuelle Partnerschaften. Von Homosexuellen weiß meist nur der innerste Kreis, wenn überhaupt. Anders gesagt: Es ist, wie es in Österreich sehr lange war und da und dort immer noch ist. Expats erzählen von katarischen Männern, die werktags mit ihren Partnern leben, das Wochenende aber als Single mit ihrer Familie verbringen. Doch das sind Ausnahmen.

Große Angst

"LGBTQI-Personen leben oft in sozialer Isolation", sagt der TV-Journalist Jonas Gerdes. Seine auf RTL ausgestrahlte und nun aktualisierte TV-Dokumentation Rote Karte statt Regenbogen schlug nicht nur in Deutschland Wellen. Erstmals kamen zwei Homosexuelle und eine Transsexuelle zu Wort, die noch in Katar leben. Sie ließen sich nur als Silhouetten filmen, das Fernsehteam musste zum Dreh westliche Kleidung mitbringen – so groß ist die Angst, man könnte von Bekannten oder dem Geheimdienst erkannt werden. "Oft geht das mit psychischen Problemen einher", erzählt Gerdes. "Sie igeln sich in ihrem Zimmer ein und sind extrem frustriert, weil sie nicht so sein können, wie sie eigentlich sind."

Die Fifa und das katarische Regime betonen immer wieder, dass auch LGBTIQ-Personen bei der WM willkommen sind. Menschenrechtsorganisationen berichten währenddessen von willkürlichen Verhaftungen, Misshandlungen und Konversionstherapien. Wie es um die LGBTIQ-Rechte im Golfstaat wirklich steht.
DER STANDARD

Wer seine Sexualität offen leben will, begibt sich in Gefahr. Mehrere Betroffene berichteten der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) von einem unterirdischen Gefängnis, in dem sie teils monatelang festgehalten und misshandelt wurden. "Sie schlugen mich jeden Tag und rasierten mir die Haare ab", wird eine Transfrau zitiert. Gerdes: "Es ist auch ein Thema beim Dating. Wenn sie sich über Grindr verabreden oder in Bars treffen, gibt’s die Gefahr, dass sich Regierungsbeamte dort anmelden, um auszukundschaften, wer da so unterwegs ist."

Sekundäres Recht

Das vielzitierte gesetzliche Verbot von Homosexualität ist technisch gesehen ein Verbot von außerehelichem Sex, was jede gleichgeschlechtliche Beziehung nach katarischem Recht zwangsläufig ist. In der Praxis ist dieses Recht sekundär, Beamte der Abteilung für präventive Sicherheit entführen ihre Opfer und halten sie ohne Anklage fest. Am Ende müssen sie unterschreiben, ihre "Handlungen" nicht zu wiederholen. Manche werden in ein Umerziehungscamp verfrachtet – dafür kann aber auch die Familie verantwortlich sein.

Deutschlands Fußballteam weiß das. In der Länderspielpause im März bekam das DFB-Team Impulsvorträge von HRW und Amnesty International. Im Juni nahm es an einer Diskussionsrunde mit LGBTQI-Vertretern und Journalisten teil, die vor Ort recherchiert hatten. Im September gab es den Menschenrechtskongress im DFB, Joshua Kimmich vertrat dort die Mannschaft. Nationalmannschaften-Geschäftsführer Oliver Bierhoff sah die RTL-Aufnahmen und sagte: "Das ist schon dramatisch."

Fußballer sind es gewohnt, sich in latent homophoben Umfeldern zu bewegen. Es hat Gründe, warum sich in Deutschland oder Österreich noch kein männlicher Profifußballer geoutet hat. Das Wiener Derby wird Fangesänge wie "schwuler FAK" oder "schwuler SCR" kaum los. Gegen Ecuador ermittelt die Fifa wegen homophober Fangesänge beim WM-Eröffnungsspiel. Vereinzelt lassen aber WM-Sicherheitskräfte Menschen mit Regenbogen auf ihren T-Shirts nicht ins Stadion, manchen werden Gegenstände im Stadion abgenommen.

Die Fifa drohte Teamkapitänen, die eine "OneLove"-Armbinde tragen wollten, mit Gelben Karten. Deutschland legte dagegen stillen Protest ein.
Foto: IMAGO/Matthias Koch

Nach Argentiniens 1:2 gegen Saudi-Arabien wurde der brasilianische Journalist Victor Pereira von katarischen Männern bedrängt, weil sie einen dreifarbigen Streifen auf der Flagge des Bundesstaates Pernambuco als Regenbogen fehldiagnostizierten. Einer trat auf der Flagge herum und nahm Pereira das Handy ab, als er die Aktion filmte. Nachdem ihm Fifa-Volunteers zu Hilfe geeilt waren, bekam er auch sein Handy von einem Polizisten zurück – aber erst nachdem das Video gelöscht worden war. Das sind Bilder, die Katar nicht braucht. Das sind aber auch Bilder, die Katars Bevölkerung mehrheitlich gut fände.

Homophober Furor

Bei all dem muss man zum x-ten Mal daran erinnern, unter welch dubiosen Umständen die WM-Vergabe ablief. Auch vor zwölf Jahren musste jedem der Fifa-Exekutivkomitee-Mitglieder klar sein, dass queere Personen in Katar nicht willkommen sein würden. Zu sagen, dass sie das schweren Herzens in Kauf nahmen, wäre wohl falsch; es war ihnen einfach egal.

Von jenen, die in Katar leben, hört man: Die Aufmerksamkeit für das Thema hat Homophobe radikalisiert. Katarische Männer treffen sich nach getaner Arbeit – oder auch nach getaner "Arbeit", oft genug erledigt ein gut bezahlter Expat die Pflichten des noch besser bezahlten Chefs – meist in einem Majlis, einer Art Vorhaus, das als Salon dient. Hier wird bei Tee oder Shisha geplaudert, diskutiert oder auch Fußball geschaut. Dem STANDARD wurde berichtet, dass homophobe Männer hier nun mit neuem Furor schimpfen, während im Geheimen mit ihren Partnern lebende Männer still danebensitzen.

Die LGBTQI-Community und Menschenrechtsorganisationen sorgen sich, dass der Staat nach der WM stärker durchgreifen könnte. "Wenn das Licht aus ist", sagt Jonas Gerdes, kann Katar wieder auf die konservativen Kräfte zugehen und sagen: Jetzt ist die Party vorbei, jetzt setzen wir unsere Gesetze wieder stärker um." (Martin Schauhuber aus Doha, 25.11.2022)