Illustration: Oana Ritariu

Einmal aufgekeimt, breitet sich Scham rasch im Körper aus. Sie beansprucht jeden Millimeter – vom Haaransatz bis zu den Zehenspitzen. Die Enge im Brustkorb kann einen fast klaustrophobischen Zustand auslösen. Ausbrechen unmöglich. Und im Kopf kreist ein einziger Gedanke. "Das hätte ich nicht tun dürfen. Das hätte ich nicht tun dürfen", hallt es einmal lauter und dann wieder leiser, aber konstant.

"Schämen kann man sich schon ab dem Kindesalter allein im stillen Kämmerchen", sagt Rahel Lea van Eickels. Sie forscht und promoviert am Institut für Klinische und Gesundheitspsychologie an der Uni Wien über Scham und Schuld.

Was denn nun zum Schämen ist, darüber entscheiden internalisierte soziale Normen. Bereits im frühen Kindesalter setzen sich diese fest. Wir übernehmen sie ganz einfach von den wichtigsten Bezugspersonen durch Beobachtung, aber auch Zurechtweisung. Im Laufe der Zeit werden sie zu persönlichen Idealen.

Wird durch eine Tat gegen diese Ideale verstoßen, empfinden wir Schuld. Scham hingegen sei schwerwiegender und belastender. Sie betrifft laut van Eickels nicht nur eine einzelne Tat – die gesamte Persönlichkeit wird als schlecht empfunden.

Schweigende Scham

Wer sich einmal so richtig geschämt hat, weiß wie unangenehm das Gefühl ist und will es um jeden Preis vermeiden. Daher gibt es auch verschiedene Strategien, damit umzugehen, weiß van Eickels. Eine davon ist, schlicht nicht darüber zu sprechen.

Die Psychologin erklärt die Theorie dahinter: Wir leben in einem sozialen Kontext mit sozialen Normen, die unsere Gruppe zusammenhalten. Sobald herauskommt, dass eine Person gegen die Normen der Gruppe und eigenen Ideale verstößt, droht ihr der gesellschaftliche Abstieg. "Scham ist auch ein sozialer und moralischer Hinweisgeber", sagt van Eickels. Im schlimmsten Fall wird die Person von der Gruppe ausgeschlossen.

An dieser Stelle meldet sich eine archaische Urangst: Wer von der Gruppe verstoßen wird, hat geringere Überlebenschancen. "Auch heute hat man Probleme, wird man aus der sozialen Gruppe ausgeschlossen", so van Eickels. Um das zu vermeiden, werden verschiedenste Versuche unternommen, die Scham unter Verschluss zu halten und Tabuthemen nicht angesprochen.

Das hat durchaus negative Folgen. "Scham kann so internalisiert – also nach innen gerichtet – sein, dass sie zu psychischen Erkrankungen führt, und dieses Tabu muss auch die Gesellschaft durchbrechen", sagt sie.

Kleine Schritte gegen die Urangst

Wissenschaftliche Studien ermutigen, den Schritt zu wagen und die Scham zu durchbrechen. Eine Erhebung etwa hat gezeigt, dass man selbst oft die härteste Kritikerin ist, weiß van Eickels. Die Selbsteinschätzung und auch die lang anhaltenden Folgen durch schambehaftetes Verhalten fallen durchwegs schlechter aus als die Fremdperspektive.

Weniger hart zu sich selbst sein und stattdessen Selbstmitgefühl entwickeln, sich selbst verzeihen und sich trauen die Emotion wahrzunehmen, darüber zu sprechen und somit auch nach außen zu tragen – all das sind Lösungsansätze zu schamloserem Verhalten.

Doch es tut sich bereits etwas. Gerade in sozialen Medien machen Influencer vermeintliche Tabus wie Menstruation, Kinderlosigkeit oder körperliche Erkrankungen immer häufiger sichtbar. Auch van Eickels bewertet solche Awareness-Kampagnen positiv.

Aus Sicht der Forscherin ist eindeutig: Die Scham wegdrücken ist keine Lösung. "Stattdessen sollten wir lernen, konstruktiv mit unseren Gefühlen umzugehen." Denn wer künftig aus Scham nicht mehr im Boden versinken will, muss Tabuthemen auf Augenhöhe besprechen. Sieben davon diskutieren wir in diesem Artikel. (Julia Beirer, 26.11.2022)