Welchen Anteil die Boykottaufrufe am Zuseherschwund haben, hier beim Bundesligaspiel zwischen Union Berlin und Freiburg, ist nicht ganz klar.

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Wien – Der Auftakt war hoffnungsvoll, aber auch trügerisch. Allen Boykottaufrufen und Menschenrechtsverletzungen zum Trotz erreichte das Eröffnungsspiel der Fußballweltmeisterschaft in Katar zwischen dem Gastgeberland und Ecuador in absoluten Zahlen eine sehr gute Quote. 602.000 Menschen ab zwölf Jahren verfolgten am Sonntag, 20. November, in ORF 1 ab 17 Uhr den Sieg Ecuadors gegen den Gastgeber (Marktanteil: 30 Prozent). Zum Vergleich: 2018 sahen im Durchschnitt 566.000 Menschen das erste Match der Fußball-WM, bei dem sich Russland und Saudi-Arabien duellierten (Marktanteil: 36 Prozent).

WM-Eröffnung: Marktanteil in Russland höher

Nur: Die Jubelmeldungen waren verfrüht. Das zeigt schon ein Blick auf den Marktanteil, der beim WM-Eröffnungsspiel vor vier Jahren höher lag als jener am Sonntag (36 versus 31 Prozent). Katar gegen Ecuador fand zudem am Sonntag statt, einem fernsehstarken Tag, und nicht an einem Freitag wie der Auftakt in Russland 2018. Und: Im Winter wird generell mehr ferngesehen als im Sommer. TV-Berater Markus Andorfer sieht die Fernsehnutzung im Juni und Juli bei nur rund 60 Prozent im Vergleich zu jener im November.

Mittlerweile sehen die Quoten gänzlich anders aus. Die WM in Katar stinkt im Vergleich zu Russland ordentlich ab. Andorfer, der auch an der FH in St. Pölten Medienmanagement lehrt, konstatiert im Gespräch mit dem STANDARD massive Zuseherverluste im deutschsprachigen Raum. Das betrifft sowohl den ORF als auch die deutschen öffentlich-rechtlichen Sender ARD und ZDF, die im Verbund mit Magenta TV die Spiele in Deutschland alternierend übertragen.

Quotenvergleich 2018 versus 2022

Sahen im ORF-Hauptabend die ersten vier Spiele der WM 2018 in der Gruppenphase noch durchschnittlich 854.000 Zuseherinnen und Zuseher, so sind es derzeit nur noch 546.000. Aussagekräftiger als die absoluten Zahlen sei aber der Marktanteil, betont auch Andorfer. Er gibt Aufschluss, wie viel Prozent der TV-Zuseherinnen und TV-Zuseher ein bestimmtes Programm anschauen. Lag der Marktanteil bei der WM 2018 in der Zielgruppe ab zwölf Jahren noch bei 31 Prozent, so kommt er jetzt auf nur noch 18 Prozent. Bei den zwölf- bis 49-Jährigen sind es nach 47 Prozent im Jahr 2018 derzeit 37 Prozent.

Der ORF verweist bei der Interpretation der Quoten darauf, dass der WM 2022 noch das traditionell gut genutzte TV-Wochenende fehle, weil das Eröffnungsspiel am Sonntag und nicht am Freitag stattfand. Der ORF hat außerdem manche Spiele an Servus TV sublizensiert. Der Salzburger Privatsender zeigte bisher fünf Begegnungen live. Diese erreichten im Schnitt 287.000 Personen. Am stärksten performte am Donnerstag das Match Portugal gegen Ghana mit einer Durchschnittsreichweite von 371.000 Zuschauern. Der Marktanteil lag bei 22,6 Prozent (zwölf und älter).

Laut einer im Magazin "Trend" veröffentlichten Umfrage gaben 23 Prozent der Befragten an, dieses Mal weniger Fußball zu schauen als bei bisherigen Fußballgroßereignissen. 19 Prozent boykottieren die WM aktiv und nur fünf Prozent sagten, dass sie heuer mehr Fußball schauen als üblicherweise.

Höchstwert bei Brasilien vs. Serbien

In Summe ergebe das "minus die Hälfte bei normalen Gruppenspielen, bei Spitzenspielen minus ein Viertel bis ein Drittel", analysiert Markus Andorfer. Das Schlagerspiel am Donnerstag zwischen Brasilien und Serbien verfolgten im ORF beispielsweise 584.000 Fans in den ersten 45 Minuten bzw. 662.000 in der zweiten Hälfte. Der Marktanteil in der Zielgruppe ab zwölf Jahren lag bei 21 bzw. 24 Prozent. In Russland erreichten Matches dieser Art meist Marktanteile zwischen 40 und 50 Prozent.

Mit dem Quotenschwund hat aber nicht nur der ORF zu kämpfen. Auch in Deutschland hinken die TV-Einschaltquoten jenen von 2018 deutlich hinterher. Der Marktanteil bei Deutschlands 1:2-Niederlage am Mittwoch gegen Japan lag im ZDF bei 59,7 Prozent, während sie vor vier Jahren in Russland beim ersten Auftritt der DFB-Elf gegen Mexiko noch bei 81,6 Prozent lagen.

Erster Grund: Programm

Die Gründe für das Quotendesaster führt Andorfer nicht alleine auf den Boykottaufruf aufgrund des Gastgeberlandes zurück. Auch Russland war 2018 kein Paradies für Menschenrechte. Für den TV-Berater hat das geringere Interesse drei Ursachen. Erstens, findet eine Weltmeisterschaft im Juni und Juli statt, sieht das Konkurrenzprogramm ganz anders aus. "Alle anderen Sender gehen bei einer WM mit ihrem Programm raus", sagt Andorfer, weil der Fokus so klar beim Fußball liege. Viel Neues oder Innovatives werde nicht gesendet.

Der November aber gehöre für Fernsehstationen zu den wichtigsten Monaten: "Hier kommt schon das Weihnachtsgeschäft dazu. Das vierte Quartal ist das umsatzstärkste." Dementsprechend hart fällt der Kampf um die Zuseherinnen und Zuseher und damit um die Werbegelder aus. Andorfer nennt als Beispiel "Bauer sucht Frau". Das ATV-Erfolgsformat kam am Mittwoch beispielsweise auf durchschnittlich 291.000 Interessierte auf ATV, Belgien versus Kanada in ORF 1 wollten rund 500.000 sehen. "Mitte Juni spiele ich keine neue Staffel von 'Bauer sucht Frau', sondern irgendwas, weil man gegen Fußball eh keine Chance hat", sagt Andorfer. Die Konkurrenz ist im November ungleich härter.

Weitere Gründe: Stimmung und Boykott

Der zweite Grund ist für Andorfer die Stimmung. Vielen ist Weihnachten zu dieser Jahreszeit emotional näher als Fußball. Und der dritte, nicht unwichtige Punkt ist natürlich das Image, das die Weltmeisterschaft begleitet. Welche Rolle Boykottaufrufe tatsächlich spielen, lässt sich allerdings schwer quantifizieren.

In den Augen der Fifa ist aber ohnehin alles Eitel, Wonne, Sonnenschein. So liest sich zumindest eine Pressemeldung zu den Zuseherzahlen, die der Weltfußballverband am Mittwoch veröffentlicht hatte. Die WM sei "rund um die Welt beliebt wie eh und je", schrieb die Fifa und zog auch einen absurden Vergleich: "Beispielsweise wurde das Auftaktspiel der WM zwischen Katar und Ecuador am Sonntag, 20. November in Ecuador im Schnitt von 3,3 Millionen Fernsehzuschauern verfolgt, der Spitzenwert betrug 3,6 Millionen Zuschauer. Das sind im Vergleich zum entsprechenden Höchstwert des Landes bei den letzten beiden WM-Auflagen 109 % mehr." Ecuador war allerdings nicht bei der Weltmeisterschaft in Russland dabei.

Ob die Quoten weltweit und nicht nur im deutschsprachigen Raum unter jenen von 2018 liegen, lässt sich schwer eruieren. Die Fifa dürfte ihr Hauptaugenmerk ohnehin von Europa in Richtung Asien oder Südamerika verlagert haben, wo die Kritik an der WM bei weitem nicht so laut ist. Von den 14 Großsponsoren der Fifa und der WM in Katar ist mit Adidas nur mehr einer in Europa ansässig. Gemeinsam überweisen sie der Fifa für ihre Werberechte in diesem Jahr mehr als 1,5 Milliarden Dollar. Da dürfte der Zuseherschwund in Europa verschmerzbar sein. (Oliver Mark, 25.11.2022)