In politischen Sonntagsreden wird sie gern beschworen: Bildung! Wie wichtig sie sei. Überhaupt und generell. Für die Kinder, aber auch für die Gesellschaft, deren Wohlstand wesentlich von dieser Ressource abhängig ist. Faktisch jedoch findet in Österreich seit Jahren keine bildungspolitische Debatte mehr statt, kein breiter gesellschaftlicher Diskurs darüber, was Kinder lernen und können sollen, ja müssen, damit sie für ihre und unser aller Zukunft bestmöglich gewappnet sind – und wie sie das lernen sollen. Die tägliche Realität ist ohnehin ernüchternd: Nicht einmal Basics wie sinnerfassendes Lesen oder grundlegende Rechenkenntnisse kann Österreichs Schulsystem im gegenwärtigen Zustand allen Kindern vermitteln.

Grafik: Fatih Aydogdu

Jahrzehntelange ideologische Grabenkämpfe zwischen den Parteien für und wider die gemeinsame, ganztägige Schule haben den Bildungsdiskurs insgesamt paralysiert und den Blick darauf, dass Förderung Bildungsbenachteiligung genauso ins Auge fassen muss wie (Hoch-)Begabung, nachgerade verunmöglicht. Die Elementarpädagogik kommt langsam ins öffentliche Bewusstsein, andere Bereiche, wie etwa die berufliche Bildung, sehen sich zu Recht oft als die "vergessenen Kinder" der Bildungspolitik. Hochschulbildung wird erst jetzt, nach langem wieder, hitzig diskutiert, seit die Hörsäle kalt zu bleiben drohen.

In der Pandemie wurden lange schwelende Probleme sichtbar: soziale Schieflagen, digitaler Nachholbedarf. Endlich wurde vielen bewusst, was das Bildungssystem und das pädagogische Personal leisten. Eben weil der Betrieb lang nicht mehr in der gewohnten, meist geräuschlosen Art möglich war. Gut so. Es ist Zeit aufzuwachen. Die Zukunft wartet nicht. (nim)


1. KINDERGARTEN: Spielend lernen im Kleinen statt Kinderbetreuung in der Masse

Er steht am Beginn der Bildungskarriere – der Kindergarten. Wobei: Genau genommen ist er die zweite Station. "Der Grundstein wird bereits sehr früh gelegt – in den ersten Jahren, daheim in der Familie oder in den Kinderkrippen", sagt Bernhard Koch vom Fachbereich Elementarpädagogik der PH Tirol. Trotzdem hat die Elementarpädagogik nicht den gleichen Stellenwert wie etwa die Schule. Dass der Kindergarten eine Bildungseinrichtung ist, wurde bereits 2009 im Bildungsrahmenplan festgehalten. Dadurch hätten sich die Anforderungen verändert, sagt Natascha Taslimi von der PH Wien und Vorsitzende des Netzwerks elementare Bildung Österreich. Aber: "Die Politik hat das verschlafen."

Wie also kann in Zukunft die Basis der Bildung für so viele Kinder wie möglich so gut wie möglich gelegt und ausgestaltet werden? Ein wichtiger Punkt ist, da sind Expertinnen und Fachleute einig, ist die Gruppengröße. Die muss sich verkleinern. Von maximal 20 Kindern pro Gruppe spricht Koch. Taslimi setzt noch niedriger an: Kinder unter drei Jahren sollten in einer Gruppe mit höchstens acht, die älteren Kinder in Gruppen mit 15 bis 18 Kindern lernen. Auch brauche es ein "multiprofessionelles Team", sagt Taslimi.

Neben den Pädagoginnen müssen auch Sozialpädagoginnen und Inklusive Elementarpädagoginnen engagiert werden, die spezieller auf Kinder eingehen können. Denn "die Zahl der Kinder mit erhöhtem Unterstützungsbedarf steigt", sagt sie. Mehr Ressourcen spricht auch Koch an; gerade für Institutionen "mit großen Herausforderungen", die viele Kinder mit "Risikofaktoren" besuchen – also aus sozioökonomisch schlechtergestellten oder bildungsfernen Familien. Zumindest eine Person mit Leitungsfunktion brauche eine akademische Ausbildung, Fachpersonal in der Folge ebenso.

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Und wie wird gelernt? Lernen sieht im Kindergarten anders aus als bei den Größeren. Spielen ist dort nicht immer nur Vergnügen, sondern auch zentrales Lernelement. "Wenn wir dadurch Bildungsprozesse initiieren, braucht die Elementarpädagogin didaktisches Wissen, entwicklungspsychologisches Wissen und Fachkompetenz", sagt Taslimi.

Ein verpflichtendes zweites Kindergartenjahr sehen die Experten skeptisch. Gratis müsse das Angebot sein, sagt Koch. Mit einheitlichen Qualitätsstandards, von Vorarlberg bis ins Burgenland, fordert Taslimi. Und: "Dass der Kindergarten in die Zuständigkeit des Ministeriums wandert." (Oona Kroisleitner)


2. SCHULE: Mut und Wissen für morgen statt sozial vererbte Bildung von gestern

Fragt man Menschen mit Fachexpertise und nicht Personal aus der Politik, wie die Schule der oder für die Zukunft aussehen soll, kommt oft die Gegenfrage, hier exemplarisch von Bildungspsychologin Christiane Spiel: "Soll ich das Ideal skizzieren oder das, was politisch momentan machbar scheint?" Bitte das Ideal, das wissenschaftlich fundiert und empirisch begründbar ist! Geht es doch um das nächste Österreich, nicht das gestrige.

Fragt man also Christiane Spiel, wo sie ansetzen würde, dann visiert sie zuerst just jenes Thema an, mit dem sich SPÖ und ÖVP über Jahrzehnte ideologisch zermürbt haben und das die aktuelle türkis-grüne Koalition wegen politischer Aussichtslosigkeit wohlweislich gleich in einen Dornröschenschlaf geschickt hat: die gemeinsame Schule. "

Ich bin total dafür", sagt sie unter Verweis auf mittlerweile Unmengen an Evidenz: "Aber sie ist nur dann gut, wenn sie qualitativ gut gemacht ist." Die nicht mehr "neue" Mittelschule (NMS), die es seit 2007 gibt, war das nicht. Denn, so Spiel: gut gemeint, (macht)politisch aber falsch auf- und inhaltlich daher nur sehr eingeschränkt erfolgreich umgesetzt. Aber ein Lackmustest dafür, wie sozial selektiv das Zweischienensystem mit AHS und Mittelschule ist.

Der Soziologe Jörg Flecker hat mit einem Team der Uni Wien über fünf Jahre die Bildungswege von NMS-Schülerinnen und NMS-Schülern in Wien begleitet. Es zeigte sich, dass die oft bemühte Durchlässigkeit des Schulsystems faktisch "nicht zum Abbau von Bildungsungleichheit führt, sondern sie verstärkt". Zwar sind, und das ist ein Erfolg, über 40 Prozent der NMS-Absolventinnen und NMS-Absolventen nach drei Jahren in einer Schule mit Matura, meist einer BHS.

Nur: Durchlässig ist das System vor allem für Akademikerkinder. Während es beim Wechsel in eine BHS vor allem auf die Noten ankommt, ist für die AHS das Bildungsniveau der Eltern wichtiger als die Noten des Kindes: "Das ist Vererbung von Bildungsungleichheit", sagt Flecker – und sie hänge engstens mit der frühen Trennung nach der Volksschule zusammen, die "erhebliche Nachteile für Kinder, ihre Familien, die Gesellschaft und Volkswirtschaft hat, weil viele Potenziale nicht gehoben werden". Das aber können wir uns nicht mehr leisten.

Darum müssten laut Spiel schleunigst allen Kindern "grundlegende Bildungsinhalte vermittelt und Vertiefungen entsprechend ihren Interessen ermöglicht werden; sowie die Fähigkeit zu Kooperation und der Mut, den sie angesichts des dramatischen Zustands der Welt brauchen". Und das sei sogar vor einer Strukturreform möglich. (Lisa Nimmervoll)


3. LEHRE: Ins Zentrum statt an den Rand des Bildungssystems

Mit 14 Jahren stehen Jugendliche vor der Wahl: Schule oder Lehre? Immerhin knapp 40 Prozent entscheiden sich nach Abschluss der Schulpflicht auch für einen Lehrberuf. Unternehmen bekräftigen immer wieder, wie wichtig dieser Ausbildungsweg für die Zukunft der Betriebe sei. Dennoch leidet die duale Berufsausbildung an einem schlechten Image.

"Im Idealfall wäre ein anderer Titel dafür wünschenswert. Jede Marketingabteilung würde eine Umbenennung vorschlagen. Das Wort ‚Lehre‘ ist zu negativ besetzt", sagt Robert Frasch, Gründer der Plattform lehrlingspower.at. Dazu kommt: Einen Lehrling auszubilden sei nichts, was man nebenbei machen könne. Hier gebe es in den Ausbildungsbetrieben in Sachen Qualitätssicherung noch Luft nach oben.

Reformbedarf sieht Frasch auch auf bildungspolitischer Ebene. Die Wertigkeit der Berufsschule im Bildungsministerium sei niedrig. "Durch ein Staatssekretariat, das allen beteiligten Ministerien zugeordnet ist, oder einen Regierungskoordinator, der für dieses wichtige Thema zuständig ist, würde die Lehre aufgewertet und das Image verbessert werden", glaubt der Experte. Damit würde auch der Berufsschule eine höhere Wertigkeit und eine Qualitätssteigerung in der Bildungslandschaft zukommen.

Verbesserungen an den Schnittstellen im Bildungssystem sind für Frasch dringend notwendig. Nach acht Jahren Schule wechseln die wenigsten an eine Polytechnische Schule. "Sie probieren es an einer berufsbildenden Schule und schauen, wie weit sie kommen." Der Ruf nach einer gemeinsamen Schule bis 15 ist auch bei Frasch laut zu hören.

Mit dem Bachelor/Master-Professional-Studium gibt es seit 2021 auch die Möglichkeit für ein Fachstudium ohne Matura. Die Umsetzung lässt zwar noch auf sich warten, für den Lehrlingsexperten ist das aber ein Schritt in die richtige Richtung. Diese Möglichkeiten sollten weiterentwickelt und ausgebaut werden, ergänzt er. Damit ein Lehrabschluss nicht in eine Bildungssackgasse führe.

Ein schärferer Blick auf die Berufsbildungsforschung würde die Lehre insgesamt aufwerten, ist Peter Schlögl, wissenschaftlicher Leiter des Österreichischen Instituts für Berufsbildungsforschung (ÖIBF), überzeugt. "Wir in Österreich haben die höchste Zahl an Schülern, die nach der Pflichtschule in irgendeiner Form eine Berufsbildung wählen. Schülerinnen und Schüler an den Gymnasien machen nach der Pflichtschule nur rund 20 Prozent aus. Dennoch gibt es mehr Forschung zu allgemeiner Bildung als zur Berufsbildung." Frasch wünscht sich noch mehr: Die bestehende Berufsbildungsforschung an den Unis sollte enger mit der Wirtschaft verbunden werden. (Gudrun Ostermann)


4. HOCHSCHULEN: Kooperation und alles für alle, aber nicht überall

Fünf Hochschulsektoren mit insgesamt 75 Bildungsinstitutionen und rund 390.000 Studierenden kommen in Österreich auf knapp neun Millionen Einwohnerinnen und Einwohner. Mittelfristig müsse man sich fragen, ob so viele unterschiedliche Sektoren sinnvoll seien oder wie man die Vorteile dieses kleinteiligen Systems nutzen könne, sagt Wissenschaftsforscher Martin Unger vom IHS. Andere Länder gehen derzeit den entgegengesetzten Weg. Unis, FHs, PHs und Privatunis sowie Privathochschulen werden zusammengelegt. "Der österreichische Weg könnte Kooperation statt Fusion lauten", sagt Unger. Das Problem: Die unterschiedlichen Systeme funktionieren mit verschiedenen Regularien und Finanzierungsmodellen.

Grafike. Fatih Aydogdu

Doch wohin soll die Lehre an der Hochschule gehen? Brauchen wir mehr Generalisten, also eine Verbreiterung der Studien, oder ist die Spezialisierung das Gebot der Zukunft? "Eigentlich brauchen wir beides", sagt Unger. Das passiere auch schon. So bietet die Wirtschaftsuni Wien ihren Wirtschaftswissenschaftsstudierenden im Bachelor einen breiten Überblick, bevor es in die spezielleren Masterstudien geht. Anders an so mancher FH: Da baut der Bachelor bereits für einen spezifischen Beruf vor. "Das ist eine Art von Arbeitsteilung", sagt Unger.

Auch in Zukunft sei das alles notwendig, "aber nicht in jedem Programm". Da müssen die Hochschulen transparenter werden und klar herausstreichen: wo liegen die Unterschiede zwischen einem Jus-Studium in Wien und einem in Linz. "Wir gehen von unterschiedlichen inhaltlichen Schwerpunkten aus, aber es könnten auch didaktische Methoden sein." In der universitären Lehre werde trotzdem alles erhalten bleiben – von der Vorlesung bis zur Kleingruppe oder einer Flipclass: dem Selbststudium der Grundlagen und der praktischen Umsetzung in den Lehrveranstaltungen. Für Studieninteressierte müssten jedoch die Studienbedingungen deutlicher gemacht werden; etwa, wo welche Betreuungsrelationen herrschen.

Auch um die Qualität zu verbessern, werde langfristig die Entwicklung dahin gehen, dass die Matura an "Signalwirkung" verliere, denkt Unger. "Aus pragmatischen Gründen wird man eher auf Schulleistungen setzen." Aber nicht wie in Deutschland, mit einem Numerus clausus, auch nicht wie in der Schweiz, die sei "kein Vorbild". Dort führt ein bestimmter Schultyp in einen bestimmten Hochschulsektor: die AHS auf die Uni, die BHS auf die FH. "Wir wollen die Vielfalt, die hat auch Vorteile. Aber es wird von allen das Gleiche vorausgesetzt und das kann nicht erfüllt werden." Bei der Zulassung müsse man beim Medizinstudium nachjustieren, sagt Unger. Während die Tests in den meisten Studienfächern sozial durchlässig sind, gilt das nicht für die Medizin. "Die künftige Ärzteschaft wird immer homogener, die Patienten immer heterogener." (Oona Kroisleitner)


5. LEBENSLANGES LERNEN: Gelebte Praxis von allen statt Programm für Besserverdienende

Egal ob digitale Skills oder handwerkliche Fertigkeiten, kurze Onlinetutorials oder länger dauernde Qualifizierungsprogramme – die Angebote an Weiterbildungen sind vielfältig. Nur genutzt werden sie nicht von allen. Ein Blick in die Statistik zeigt: je höher das schulische Ausbildungsniveau, desto höher die Weiterbildungsbeteiligung. Und Menschen mit österreichischer Staatsbürgerschaft beteiligen sich häufiger als solche ohne österreichische Staatsbürgerschaft, Frauen stärker als Männer.

Dabei ist lebenslanges Lernen in Zeiten rascher Veränderungen wichtiger denn je. "Grundsätzlich braucht es von unserer Gesellschaft ein klares Bekenntnis, dass Erwachsenenbildung vorausschauend und permanent – und nicht bloß als Reparaturmechanismus für das Versagen der Ausbildungssysteme – eingesetzt wird. Dass sie Zeit und Ressourcen benötigt – und dass die Allgemeinheit und damit der Standort Österreich gut bedient wären, diese Zukunftsinvestition zu tragen", sagt Franz-Josef Lackinger, Geschäftsführer des BFI Wien.

Aus Sicht der Erwachsenenbildner lautet der Wunsch an das nächste Österreich: "Mehr Planungssicherheit!" Analog zum Schul- und Universitätssystem brauche die Erwachsenenbildungsbranche konjunkturunabhängige Budgets statt einer Stop-and-go-Förderpolitik. Denn nur so könne ein passendes Qualifizierungsangebot geschaffen werden: hochwertig, kontinuierlich, an langfristigen Trends orientiert und vor allem für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer leistbar.

Mit der Bildungskarenz, der Bildungsteilzeit oder einem Fachkräftestipendium gibt es bereits unterschiedliche Möglichkeiten, sich für Bildungsvorhaben zeitlich freizuschaufeln und den Verdienstentgang abzufedern. Wer aber nur über ein niedriges Einkommen verfügt, kann sich die Kosten für Weiterbildung nur schwer leisten, länger dauernde Höherqualifizierungen sind für Haushalte mit geringem Einkommen kaum machbar. Zwar gibt es Fördertöpfe für Weiterbildung, den größten Teil tragen aber die Bildungsteilnehmenden selbst, wie eine Auswertung des IHS zeigt.

Für Lackinger ist neben den Kosten auch der Faktor Zeit entscheidend. "Weiterbildung macht man nicht ‚nebenbei‘ – auch wenn sie von vielen berufsbegleitend absolviert wird. Das heißt, dass Arbeitgeber gut beraten sind, beim Thema Bildungsfreistellung nicht nur die oberste Führungsebene zu berücksichtigen. Und das heißt auch, dass das Modell der Bildungsteilzeit und der Bildungskarenz so gestaltet wird, dass es nicht nur für besser verdienende Akademikerinnen und Akademiker realistisch durchführbar ist." (Gudrun Ostermann, 27.11.2022)