Jamal Musiala wird gegen Spanien gefordert sein.

Foto: MAGO/Fotoarena/Rodolfo Buhrer

Julian Brandt brachte die aktuelle Lage der deutschen Fußball-Nationalmannschaft bei der Fußball-WM in Katar wohl am besten auf den Punkt. "Wir sind in einer Scheißsituation", sagte der Offenspieler vor der Partie gegen Spanien am Sonntag (20 Uhr, live ORF1). Und das hat sich das Team selbst zuzuschreiben. Denn nach der völlig überraschenden 1:2-Niederlage gegen Japan steht Deutschland bereits am zweiten Gruppenspieltag gewaltig unter Druck. Wie bereits bei der WM 2018 droht erneut das frühzeitige Ausscheiden.

Geht es nach der öffentlichen Meinung, dürfte dies auch bereits beschlossene Sache sein. Das liegt auch am Gegner am Sonntag. Spanien hat das eigene Auftaktspiel äußerst souverän mit 7:0 gegen Costa Rica gewonnen.

Aber was spricht nun eigentlich für Deutschland? Und was dagegen? Ein Abtausch der Argumente.

FÜR

Natürlich kratzen die Deutschen die Kurve, wer wollte daran zweifeln? Wohl niemand, der den ersten Spieltag in Gruppe E verfolgt hat. Da gab’s einerseits das – angesichts vieler vergebener Torchancen – mehr als unverdiente deutsche 1:2 gegen Japan, andererseits das weniger als nichtssagende spanische 7:0 gegen ein desaströses Costa Rica.

Behauptung: Keines der sieben Goals hätte Deutschland kassiert. Mit den Spaniern wird die Truppe von Hansi Flick hinten und vorn besser zurande kommen als mit den flinken Japanern. Ja, Defizite sind in der Defensive unübersehbar, die Herren Süle, Schlotterbeck und Raum wären in einem österreichischen Nationalteam vielleicht nur zweite Wahl. Und wieso Hummels daheim bleiben musste, wissen Flick und Gott allein. Dennoch wird Deutschland nicht ein zweites Mal en suite in der WM-Vorrunde scheitern.

Dazu ist die Qualität im Mittelfeld, wo es sich gegen Spanien entscheidet, zu groß. Kimmich, Gündogan, Gnabry, Müller, Goretzka, Götze, das sind lauter g’standene Kicker, die oft genug bewiesen haben, dass sie mit Druck umgehen können. Von der Kategorie hat Spanien weniger, da tummeln sich um Kapitän Busquets lauter Jungspunde, die keine großen Turniere und kaum wirklich wichtige Spiele in den Beinen haben. In der "Mannschaft" hingegen stehen etliche, die schon Titel in der Champions oder der Europa League holten und/oder bereits Weltmeister waren, Götze schoss 2014 in Brasilien sogar das entscheidende Tor im Finale.

In diesem Finale war natürlich auch Glück dabei, schließlich hätte Argentinien bei 0:0 nach Neuers Foul an Higuain ein Elfer gebührt. Doch wie die Fußballwelt oft genug feststellen konnte, ist das Glück ein deutsches Vogerl, ganz selten nur hat es sich verflogen, etwa im Wembley-Finale 1966 oder eben in der Vorrunde in Russland 2018.

Diesmal verfliegt es sich nicht. Deutschland lässt die Diskussionen um Kapitänsschleifen hinter sich und hält sich nicht mehr den Mund zu, sondern schlägt Spanien und dann auch noch Costa Rica. Den anderen Gruppe-E-Achtelfinalisten werden Japan und Spanien am letzten Spieltag im direkten Duell ermitteln. Und das war’s dann aber auch schon mit Aus-dem-Fenster-Lehnen, wir wollen die Brüstung nicht überstrapazieren! (Fritz Neumann, 27.11.2022)

WIDER

Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, könnte in diesem Fall mit Christian Morgenstern völlig zu Recht argumentiert werden. Wem das nicht genügt: Die Furia Roja lehrte die Schlander fast immer das Fürchten, sofern notwendig.

34 Jahre liegt der letzte deutsche Pflichtspielsieg über die Iberer schon zurück. In diesem Jahrtausend war maximal in Freundschaftsspielen Land in Sicht. Im bisher letzten ernsten Zusammentreffen vor etwas mehr als zwei Jahren anlässlich der Nations League siegten die Spanier 6:0 – in Worten: sechs zu null! Das WM-Halbfinale 2010 und das EM-Finale 2008 gewann sie jeweils mit 1:0, jeweils gegen eine deutlich stärke deutsche Mannschaft, als sie Bundestrainer Hansi Flick in Katar mithat.

Apropos – wer sich auf eine Abwehrreihe mit den Herrn Niklas Süle, Nico Schlotterbeck und David Raum verlässt und Mats Hummel zwar Hochform zugesteht, aber den Weltmeister zu Hause lässt, weil der kraft seiner Erfahrung eventuell mit abweichender Meinung die mannschaftliche Kuschelstimmung im katarischen Luxusressort stören könnte, hat sich eigentlich von Beginn an aufgegeben.

Kann Flick Bundestrainer, haben sie sich in Deutschland gefragt, nachdem Joachim Löws Bleiben infolge der spanischen Sechserpackung nicht länger war. Bis zur WM gab’s unter dem kontrolliert netten Heidelberger immerhin zehn Siege und fünf Remis bei nur einer Niederlage. Mit einer Ausnahme (5:2 gegen Italien) waren es Pflichtsiege gegen bessere, öfter aber deutlich schlechtere Sparringpartner.

Dass Flick gegen Japan in Ilkay Gündogan, Jamal Musiala und Thomas Müller die besten Spieler bei nur 1:0 vom Platz holte, lässt Zweifel aufkommen, ob er in einer deutlich heikleren Partie unter Druck richtige Entscheidungen treffen kann. Die Nationalmannschaft, zumal, wenn es ihr an Selbstvertrauen gebricht, ist eben kein Selbstläufer, wie es der FC Bayern für Flick war – zum Beispiel mit einem Stürmer, der verlässlich trifft.

Auf der Habenseite der Deutschen steht gegen Spanien wohl nur, dass die Diskussionen um die "One Love"-Binde abgehakt sind. Gedanken, welches Zeichen des Protestes harmlos genug ist, um nicht eventuell halbernste Konsequenzen gewärtigen zu müssen, werden Manuel "der Kühne" Neuer und Kollegen am Sonntag nicht hemmen. (Sigi Lützow, 27.11.2022)