Vor genau neun Monaten startete Russland seinen Angriff auf die Ukraine, das Land sollte im Handstreich erobert werden. Doch der Versuch, die Hauptstadt Kiew mit Fallschirmjägern und Panzerbrigaden einzunehmen und die politische Führung zu beseitigen, scheiterte. Nun reagiert der Kreml auf die militärischen Rückschläge der vergangenen Wochen mit massivem und gezieltem Artilleriebeschuss von militärisch unbedeutender Infrastruktur im ganzen Land.

Leidtragende sind Millionen von Zivilistinnen und Zivilisten – auf dem Land, in Dörfern, in Städten und in Metropolen. Immer größer werden die Probleme, den nun einsetzenden Winter zu meistern.

Männer schaufeln Schnee in Horenka, einem Vorort Kiews. Auf einer Wand einer zerstörten Wohnung zeigt Graffitikünstler Banksy einen Mann in der Badewanne.
Foto: REUTERS/Gleb Garanich

Schauplatz Kiew

Kaum ein Auto fährt an diesem 24. November durch die üblicherweise gut besuchten Straßen der Innenstadt. Schneebretter rutschen von den Dächern und krachen laut auf die Straßen und parkende Autos. Der Winterdienst kommt nur langsam voran. Auf einem der Balkons schaufelt ein Mann Schnee, während eine Frau über den eisigen Gehweg schlittert und es umständlich in eines der wenigen Restaurants schafft, die dank eines Stromgenerators offen haben. Alle Tische sind besetzt, es hat sich herumgesprochen, wo man an diesem Tag Handys, Laptops und Powerbanks aufladen kann. Die Toiletten sind aber außer Betrieb: kein Wasser. Die Kellner servieren die Getränke in Plastikbechern.

Mehr als 80 Prozent der Verbraucher in der Hauptstadt sind laut Bürgermeister Vitali Klitschko von der Strom- und Wasserversorgung abgeschnitten, auch das Handynetz bricht immer wieder zusammen. Es werden Stunden vergehen, bis ein Teil der Schäden repariert sein wird. Später, am Abend des 24. November, sitzen viele Menschen in Kiew im Dunkeln. Auch die Zentralheizung funktioniert nicht überall. In seiner abendlichen Ansprache kündigt Präsident Wolodymyr Selenskyj an, dass in den meisten Regionen Notfallzentren eingerichtet wurden und werden. Dort sollen alle Strom, Internet, Lebensmittel, Wärme und Ruheplätze bekommen.

"Hättest du lieber keinen Strom und dafür fließendes Wasser? Oder fließendes Wasser und dafür keinen Strom?" So lauten die Fragen, die man sich in diesen Tagen scherzhaft unter Freunden stellt. Gleichzeitig denkt man über Optionen nach, um in diesem Winter nicht zu erfrieren. Eine Datscha auf dem Land mit Holzofen? Verwandte auf dem Land? Oder doch die Flucht ins Ausland?

Schauplatz Lyman

Mit einem Beil zerkleinert Leonid Iwanow das Brennholz vor seinem Wohnblock in Lyman im östlichen Oblast Donezk. Der 65-jährige Pensionist ist einer von circa 10.000 Menschen, die noch immer hier leben – hier, wo es seit Monaten kein Fließwasser gibt, keinen Strom. "Ich wüsste nicht, wohin ich gehen soll", sagt er. Langsam geht er die Steintreppen nach unten in den engen Keller, in dem er seit acht Monaten mit zwei pensionierten Nachbarinnen lebt. Ein kleiner Holzofen wärmt den stockdunklen Gang: "Hier schlafen wir."

So wie die meisten in Lyman hat auch Iwanow im Keller ausgeharrt, als die Stadt unter russischer Okkupation stand. Seit Anfang Oktober befindet sich die Kleinstadt wieder unter ukrainischer Kontrolle, doch die Frontlinie liegt noch immer nur 20 Kilometer von hier entfernt. Das Donnern der Artillerie und Raketeneinschläge gehören nach wie vor zum Alltag – und das war bereits vor dem 24. Februar so, als Russland seinen Angriff startete. Denn im Donbass dauern die Kampfhandlungen nun schon seit mehr als acht Jahren an.

Lyman ist heute großteils zerstört, die Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Dennoch wollen viele nicht weg von hier. Wie er sich auf den Winter vorbereitet? Schulterzucken. Er werde im Keller schlafen, auch wenn er im ersten Stock eine Wohnung habe. Hier lebte er seit 1988. Damals war er einer von vielen Beschäftigten der Eisenbahngesellschaft. Das Gehalt, das er bis zur Pensionierung verdiente, habe zum Leben gereicht. Er zeigt Schlafzimmer, Küche, Wohnzimmer, Badezimmer. "Wir hatten alles." Doch nun sind die Fenster und die Wände beschädigt, die Wohnung lässt sich nicht mehr heizen. Im Wohnzimmer stehen gerahmte Fotos seiner Frau. "Sie ist an Corona gestorben", sagt der Pensionist und nimmt eines der Fotos liebevoll in die Hand. "Ich habe mein ganzes Leben hier gelebt. Ich will nicht gehen."

Manchmal ist ein kleiner Holzofen alles, was man hat.
Foto: AP Photo/Andriy Andriyenko

Schauplatz Odessa

Der Deribasivska-Boulevard, der sich einen Dreiviertelkilometer quer durchs Herz von Odessa zieht, gilt als die Prachtmeile der Schwarzmeer-Metropole im Süden der Ukraine. Sie ist ein Ort, an dem sich die Stadt gewöhnlich so ausstellt, wie sie sich gern selber sieht: geschäftig, belebt, kulturell hochstehend. Doch "gewöhnlich" ist seit neun Monaten nichts mehr auf der Deribasivska. Seit kurzem erlebt auch die Renommierstraße, die die russischen Invasionsversuche bisher weitgehend schadlos überstanden hat, die neue Kriegsphase hautnah.

Über ihr hängt, wie über der gesamten Innenstadt, seit Anfang der Woche ein Geräusch, das alles andere übertönt: das von dutzenden Notstromaggregaten. Pünktlich zum Wintereinbruch – bis vor kurzem war es in Odessa noch relativ warm für diese Jahreszeit, erst jetzt gehen die Temperaturen langsam, aber stetig Richtung null – nahm Russland auch im Süden der Ukraine die Energieinfrastruktur ins Visier. Mit dem Ergebnis, dass es in weiten Teilen der wichtigsten Hafenstadt des Landes seit ein paar Tagen kaum noch Strom gibt – wenn überhaupt. Einzig die Wasser- und Gasversorgung hält sich bisher auf relativ stabilem Niveau.

Die Stadtverwaltung begegnete der Misere bisher mit der Einrichtung von hunderten quer über die Stadt verteilten Wärmestuben – dennoch zu wenige für eine Stadt wie Odessa mit derzeit 700.000 bis 800.000 Einwohnern (vor dem Krieg über eine Million).

Noch beruhigt die lokale Militäradministration, dass alle Schäden zeitnah behoben würden; aber da die Energieinfrastruktur schon vor dem Krieg nicht die Beste war – vor allem im historischen Zentrum stammen die Stromleitungen gleichsam aus der sowjetischen Antike – und die russischen Angriffe weitergehen, drohen große Teile der Stadt mittelfristig unbewohnbar zu werden.

Gezielte Stromabschaltungen erwiesen sich bisher als ebenso wenig zielführend wie die Aufrufe der Stadtverwaltung, generell Strom zu sparen. Wie Odessa angesichts der aktuellen Lage den Winter überstehen soll, weiß deshalb noch niemand wirklich. (Daniela Prugger aus Kiew und Lyman, Klaus Stimeder aus Odessa, 26.11.2022)