Freunde mit Handicap: Jaylin Webb (li.) und Banks Repeta haben in "Armageddon Time" nicht die gleichen Chancen.

Der New Yorker James Gray gilt innerhalb seiner Generation als der Klassizist. Das lässt sich so verstehen: Anders als bei seinen bekannteren Altersgenossen Quentin Tarantino oder Steven Soderbergh drängt sein Stilwille weniger laut in den Vordergrund. Gray mag introvertierter, zurückgenommener inszenieren, dennoch arbeitet er äußerst konsequent daran, die Archetypen und Legenden, die das US-Kino immer wieder aufgreift, mit skeptischem Blick zu überprüfen und zu hinterfragen.

Focus Features

Er ist überdies äußerst cinephil: Im Gespräch über sein Weltraumdrama Ad Astra (2019), in dem Brad Britt als homerischer Astronaut seinem Vater nachspürt, sprach er etwa einmal überraschend über den Einfluss des österreichischen Filmavantgardisten Peter Kubelka auf sein Werk.

Versteckter Abschied

In seinem neuem Film Armageddon Time – The-Clash-Fans werden den Verweis auf die Reaggae-Nummer von 1979 nicht überhören – gibt es auch eine Sequenz mit Rakete. Der elfjährige Paul Graff (Banks Repeta), Held und Alter Ego des Regisseurs, lässt das selbstgebastelte Geschoß gemeinsam mit seinem Großvater Aaron (Anthony Hopkins) in einem Park in den Himmel hochsteigen. Die Szene ist schmerzvoll, weil sie ein versteckter Abschied ist. Aaron ist schwer krank, verzieht auch einmal gequält sein Gesicht.

Doch er gibt seinem Enkel auch noch einen wichtigen Rat mit auf den Weg. Er müsse immer ein "Mentsh" sein, was, weiß Gott, nicht so einfach ist. Einstehen für andere, Mut zeigen, gegen Ungerechtigkeit auftreten – auch darum geht es in diesem autobiografischen Film, der im Queens des Jahres 1980 spielt.

Das heißt noch lange nicht, dass Gray mit seinem Coming-of-Age-Film über einen Buben aus einer jüdisch-ukrainischen Familie auf ein wohltuend pädagogisches Drama hinauswill. Hier bildet sich kein Charakter gegen die Widrigkeiten seines Alters und seiner Herkunft heraus – oder nicht nur. Armageddon Time ist ein Film der Zwischentöne. Er weiß, mit wie vielen Widersprüchen Menschen leben können, und vermeidet Beschwichtigungen. Vom Familiären gelangt er mühelos zu einem Zeitbild, in dem sich eine neue Ära abzuzeichnen beginnt.

Soziale Unterschiede

Die zentrale Beziehung, anhand derer soziale Gefälle, Ungleichheiten und Privilegien ausagiert werden, ist jene von Paul zu seinem Schulfreund Johnny Davis (Jaylin Webb). Johnny ist schwarz und aus einem armen Haushalt und damit ungleich benachteiligter als Paul, der zwar selbst einer Minderheit angehört, die sich aber nicht an der Hautfarbe manifestiert. Ihr Lehrer lässt die beiden Unruhestifter so auch auf ganz unterschiedliche Weise spüren, was er von ihren Streichen hält.

Gray macht im Spiel seiner großartigen Darsteller deutlich, dass sie auf völlig verschiedenen Erfahrungen aufbauen. Während Pauls Aufmüpfigkeit etwas frech Unangepasstes hat, kennt Johnny ein viel fundamentaleres Gefühl des Ausschlusses, das Rassismus heißt.

Die Eskapaden der Buben, in denen Platz für Zukunftsträume bleibt, bezieht die Erzählung immer wieder auf Pauls jüdischen Familienkosmos zurück, in dem sich viel um Fragen der Assimilation und damit den Wunsch nach gesellschaftlichem Aufstieg dreht.

Komisch bis brutal

Gray zeigt prägnant, wie dabei Klassenbewusstsein mit einem aus der eigenen Identität gewonnenen Werteverständnis kollidieren kann. Es gibt hektische, komische und brutale Szenen, in denen auch die Scham und die Überforderung der Eltern deutlich werden – mit Jeremy Strong, dem Succession-Star, und einer fragil-energischen Anne Hathaway sind auch diese Rollen exzellent besetzt.

Armageddon Time bleibt aber vor allem ein Film, der aus der Rückschau Erkenntnisse über die Gegenwart gewinnt. Ähnlich wie Ben Lerners Roman Die Topeka Schule, der die Spaltung der US-Gesellschaft am Aufkommen einer neuen Rhetorik in den 90ern festmacht, zeigt auch Gray, worauf Trumps zerstörerische Politik aufbauen konnte. Reagan – dieser "Schmock" – steht im Film noch vor der Tür, und in der neuen, elitistischen Schule, in die die Graffs dann den vermeintlich hoffnungslosen Fall Paul schicken, wird ein erbarmungloser Individualismus gepredigt. Der Austausch, das Wir, ging seitdem verloren. (Dominik Kamalzadeh, 26.11.2022)