Die Staus vor den Häfen der Welt, zu sehen jener in Los Angeles, haben sich aufgelöst. Die Nachfrage nach Containertransporten ist fast versiegt.

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Manchmal erwischt es auch Fachleute auf dem falschen Fuß. Im Frühjahr gaben sich die großen Containerreedereien trotz Ukraine-Kriegs zuversichtlich für den weiteren Geschäftsverlauf – ein halbes Jahr später schwimmen ihnen die Felle davon. Warum sind die Frachtraten, wie die Preise für den Seetransport eines Containers genannt werden, innerhalb kurzer Zeit derart in sich zusammengefallen?

"Es sind zwei Dinge zusammengekommen, die durch den Hebel der Psychologie verstärkt wurden", sagt Alexander Till. Er vertritt seit 2007 den Hafen Hamburg in Österreich und berichtet von einem schlagartigen Nachfragerückgang in Höhe von 30 Prozent beim Volumen ab Ende August. Die durchschnittliche Frachtrate für einen Standardcontainer ist von 8000 auf etwa 3000 US-Dollar eingebrochen. "Die Raten sinken seit Wochen täglich, eine so hohe Fallhöhe hatten wir noch nie", sagt Till.

Warum der plötzliche Einbruch? Wegen der gestörten Lieferketten bestellten Importeure aus Angst, keine Ware zu bekommen, mehr, sodass nun die Lager weltweit voll sind. Gleichzeitig trübten die weltweit hohe Inflation und in Europa die enormen Energiepreise die Konsumstimmung, was die Menge an nachgefragten Gütern verringert.

Mehr Kapazitäten

Sorgen um die Containerreedereien sind aber nicht angebracht. Diese hatten während der Corona-Jahre Rekordgewinne in Milliardenhöhe eingefahren – und auch massiv neue Schiffe bestellt. Diese werden zwar erst in rund zwei Jahren auf den Markt kommen, das sich abzeichnende Überangebot an Schiffen entfaltet aber bereits jetzt einen psychologischen Effekt. Der Markt habe den damit verbundenen Preisverfall vorweggenommen, erklärt Till.

Die Zahl der ausgelieferten Schiffe mit einem Volumen von insgesamt 7,3 Millionen Containern wird 2025 einen Rekord markieren. Zum Vergleich: Die bisherige Höchstmarke 2008, im Jahr der Finanzkrise, lag bei 6,6 Millionen – anschließend ging es mit den Frachtraten tendenziell abwärts. Droht das jetzt auch?

"Das ist ein Blick in die Glaskugel", sagt Till. Es hänge davon ab, ob die Nachfrage nach Waren im ersten Quartal wieder anspringt und sich die vollen Lager leeren. Und wie die Reedereien reagieren, um in ihrem Bereich die Balance zwischen Angebot und Nachfrage wiederherzustellen. Dazu legen sie betagtere Schiffe auf Reede, nehmen also Kapazitäten vorübergehend aus dem Markt. Dies sei bisher kaum geschehen, sagt der Experte – weist aber darauf hin, dass noch niedrigere Frachtraten bald nicht mehr kostendeckend seien. Anbieter wie die Hamburger Reederei Hapag-Lloyd haben bereits angekündigt, so tiefe Preise nicht akzeptieren zu wollen.

Für die Wirtschaft ein Segen

Für die wirtschaftliche Entwicklung sind tiefere Frachtraten freilich ein Glücksfall. Denn während der Corona-Jahre hatten sie sich vervielfacht und laut UN-Entwicklungs- und Welthandelskonferenz Unctad bis zu 1,5 Prozentpunkte zur globalen Inflationswelle beigetragen. Zudem lösen sich die zeitraubenden Staus vor den Häfen, die Till zufolge zuvor "überlastet, verstopft und im Chaos" gewesen seien, auf: "Das entspannt sich jetzt schlagartig."

Profitieren sollten auch Umwelt und Klima, da die Reedereien stets ältere Schiffe mit höherem Treibstoffverbrauch auf Reede legen. In Sachen Effizienz habe sich sehr viel entwickelt, berichtet Till. Innerhalb von 15 Jahren habe sich bei neu gebauten Schiffen der Treibstoffverbrauch pro Container und 100 Kilometer um fast 50 Prozent verringert. Noch sparsamer sollten jene Kapazitäten sein, die in den nächsten Jahren auf den Markt kommen werden.

Vor der Pandemie bestimmten etwa 40 Jahre lang wegen leichter Überkapazitäten die Importeure die Preise für Seefracht. Während des Höhenflugs der Frachtraten ging die Preismacht auf die Reedereien über. "Dieser Paradigmenwechsel ist nun auch wieder Geschichte", sagt Till, der stark schwankende Frachtraten erwartet. Springt die Nachfrage rasch an und verringern Reedereien Kapazitäten, könnten die Preise wieder "schlagartig explodieren". (Alexander Hahn, 28.11.2022)