Piotr Anderszewski hat im Musikverein mehrere Zeitmaschinen gleichzeitig in Gang gesetzt.

Foto: Simon Fowler

Anton Webern schrieb 1936 seine Variationen für Klavier op. 27. Als Piotr Anderszewski dieses Stück rund 86 Jahre später – genauer: am vergangenen Freitag – im Wiener Musikverein spielte, schienen sich gleich mehrere Zeitmaschinen zugleich in Bewegung zu setzen. Denn zum einen setzte der Pianist die Erkenntnis um, dass Weberns Musik "enorm subjektiv, in der romantischen Tradition stehend" gespielt werden soll, wie Hartmut Krones im Programmheft völlig zu Recht betont.

Zum anderen wirkte das Verständnis von Teilen des Publikums im Brahms-Saal so enden wollend, als wäre es gerade mit einem zeitgenössischen Erzeugnis konfrontiert, dessen Tinte noch nass ist. (Und das, während gerade beim Festival Wien Modern einen Monat lang wirklich ganz neue Klänge und Konzepte zu erleben sind.) Für jene, die der Komposition ihr Gehör schenkten, erklang eine fulminant leuchtende, gestisch lebhafte Stationenfolge von großer emotionaler Verdichtung und extremer Ausdruckskraft.

Emotionaler Spannungsbogen

Applaus bekam Webern nicht. Denn Anderszewski ließ ohne Unterbrechung Beethovens vorletzte Sonate, jene in As-Dur op. 110, einsetzen, fast so leise, wie die Variationen verklungen waren. Und er schaffte über die hochkomplexe Form, die Fugentechnik, Rezitativ und eine geradezu elementare Beschwörung des Klangs vereint – am extremsten vor dem Einsatz der Umkehrung des Fugenthemas – einen großen emotionalen Spannungsbogen. Am Ende stand die Vision eines jubelnden Triumphes nach Klage und Leid.

Dass er seine, von ihm öfter so kombinierte Auswahl aus dem zweiten Band des Wohltemperierten Klaviers von Johann S. Bach derart musikantisch anlegte, als lebte er im 19. Jahrhundert, ließe sich stilistisch diskutieren. Aber auch das wirkte wie eine lohnende Zeitreise. Drei Zugaben und viel Applaus. (Daniel Ender, 28.11.2022)