Im Gastblog geht der Europapolitiker Hannes Swoboda der Frage nach, welche Rahmenbedingungen für einen Frieden in Europa geschaffen werden müssen.

Der Krieg in der Ukraine geht seinen tragischen Lauf. Die Ukraine hat Land zurückgewonnen, und der Aggressor Russland reagiert mit brutalen Angriffen auf die lebenswichtige Infrastruktur. Es ist also kein Friede in Sicht. Dennoch machen sich einige Gedanken, wie der Krieg beendet und letztendlich der Frieden wiederhergestellt werden kann. Dabei geht es zuerst um einen Waffenstillstand und im Weiteren um eine Friedenslösung zwischen der Ukraine und Russland. Und zusätzlich muss die Wiederherstellung einer Friedensordnung in Europa ein wesentliches Friedensziel sein.

Die Ukraine benötigt für einen andauernden Zustand des Friedens ausreichend Sicherheitsgarantien. Dabei spielt auch die Nato eine entscheidende Rolle.
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Das Ende des Krieges gegen die Ukraine und eine neue Friedensordnung in Europa sind eng miteinander verbunden. Das bedeutet aber, dass eine für die Ukraine und Europa insgesamt befriedigende Lösung eine komplexe ist und nicht einfach mit dem Ende des Krieges schon herbeigeführt ist. Dabei sind Forderungen, die primär an die Ukraine gerichtet sind und einfach die Einstellung von Kampfhandlungen verlangen, naiv und geradezu gefährlich. Das ist letztlich eine Einladung an Russland, einfach weiterzumachen. Und das ist die größte Gefahr – nicht nur für die Ukraine, sondern für den Frieden in Europa insgesamt.

Russische Aggression oder Putins Krieg?

Die Debatte über einen möglichen Weg zu einem dauerhaften Frieden ist eng verbunden mit unterschiedlichen Einschätzungen, inwieweit der Krieg gegen die Ukraine eine zutiefst russische Aggression darstellt oder eine Ausgeburt des spezifisch Putin'schen Denkens ist. In der Folge stellt sich die Frage, ob mit einer Niederlage von Putin beziehungsweise seinem Abtreten die Gefahr, die von Russland ausgeht, verschwindet oder – wenn auch subkutan – weiterköchelt. Zweifelsohne hat Putin die schon vorhandenen imperialen und autoritären Tendenzen des alten Russlands und dann der Sowjetunion verstärkt. So zufällig und rein durch die Person Putin bestimmt konnte sich Russland nicht in eine imperiale, kriegsbereite Nation wandeln.

Mit Recht muss man sich demnach fragen, wer nun die Verantwortung für den Krieg gegen die Ukraine trägt. Benno Emker vom Osteuropäischen Institut in Tübingen stellte in einem Beitrag in der "FAZ" kürzlich die Frage: "Ist der von Putin begonnene Krieg ein 'Krieg der Russen' gegen die Ukraine?" Und er gibt die Antwort: "Nein, es ein Vernichtungskrieg Russlands als Staat unter der Führerdiktatur Putin (...) Das 'russländische Volk' als politisches Subjekt ist seit langem seiner Souveränität beraubt worden."

Für ein friedliches Zusammenleben in Europa bedarf es also sowohl einer Veränderung an der Spitze des russischen Staates als auch einer Wiedergewinnung an Volkssouveränität im Rahmen demokratischer Verhältnisse. Das war im Deutschland nach 1945 leichter, da durch die Kapitulation und durch die Besetzung – jedenfalls im Westteil – die Demokratisierung "erzwungen" wurde. Überdies wurde sie von demokratischen Kräften, die "überwintert" haben, mitgetragen. Und dennoch braucht es diese fundamentale Änderung auch hinsichtlich Russlands. Überdies müsste diese Änderung auch durch eine Teilnahme an der demokratischen europäischen Gemeinschaft abgesichert werden.

Auch der russische Ökonom Wladislaw L. Inosemzew misst diesem Umstand (in einem Beitrag in der "NZZ") große Bedeutung zu, "da keine postdiktatorische oder postimperiale Gesellschaft jemals in der Lage war, demokratische Reformen ohne eine Integration in eine Gemeinschaft demokratischer Nationen durchzuführen". Dabei geht es nicht um eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union, sondern um eine Partnerschaft unter Demokratien. Aber dazu muss der Westen und insbesondere die EU bereit sein und den Krieg nicht zum Anlass nehmen, eine dauerhaft antirussische Politik zu betreiben.

Wie kommt der Frieden nach Europa zurück?

Trotz dieser Komplexität und des Entwerfens von langfristigen Visionen für ein demokratisches Europa, das Russland einschließt, ist es angebracht, auch schon kurzfristig, in der heißen Phase des Krieges, an das Ende des Krieges und an Wege zum Frieden zu denken. Aber jedenfalls ist dabei immer im Auge zu behalten, dass eine neuerliche Aggression gegen die Ukraine oder gegen einen anderen Staat durch Russland nach Möglichkeit verhindert werden sollte. Zu viele aggressive Handlungen Russlands – unter Putin – schon vor dem Ukraine-Krieg – gegen Georgien, Moldawien und die Ukraine selbst – müssen uns wachsam werden lassen. So meint der oben erwähnte W. L. Inosemzew: "Das heutige Russland ist ein halbfeudaler, nationalistischer Staat, der von einem aggressiven Drang nach Expansion besessen ist. Es kann daher nicht reformiert, sondern nur 'wiederhergestellt' werden."

Da eine solche Wiederherstellung aber viele Jahre dauert und von außen nur begrenzt beeinflussbar ist, sind der Ukraine und eventuell auch anderen Nachbarn Russlands Sicherheitsgarantien anzubieten, die einen optimalen Schutz gewähren. Das Einfachste wäre natürlich, die Ukraine in die Nato aufzunehmen und den nordatlantischen Schutzschirm auf die Ukraine und eventuell auch auf Georgien und Moldawien auszudehnen. Aber das will die Nato wahrscheinlich und Russland sicher nicht. Und so muss man nach anderen Wegen suchen.

Der ehemalige Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen und der Leiter des ukrainischen Präsidialamtes Andrij Jermak haben sich darüber Gedanken gemacht und einen diesbezüglichen Vorschlag unter dem Titel "Kyiv Security Compact" unterbreitet. Die Ukraine sollte von einer Reihe von Staaten – vornehmlich, aber nicht ausschließlich aus der Nato – Sicherheitsgarantien bekommen. Dabei geht es primär darum, durch Waffenlieferungen, Training und gemeinsame Manöver die Ukraine militärisch so zu stärken, dass sie sich selbst verteidigen kann, sollte dies notwendig sein. Primär geht es natürlich darum, durch eine entsprechende, auch sichtbare, Stärke jeden Aggressor abzuschrecken. Diese gemeinsame strategische Partnerschaft sollte parallel zur Integration in die Europäische Union erfolgen.

Frieden in Verbindung mit globaler Zusammenarbeit

Die Wiederherstellung einer europäischen Friedensordnung bedarf also einer Vielfalt von Maßnahmen. Einerseits gilt es kurzfristig, der Ukraine in ihrer Abwehr der russischen Aggression zu helfen. Langfristig gilt es, die Verteidigungskapazität der Ukraine solidarisch zu unterstützen und den Weg in die EU durch Hilfe bei entsprechenden Reformen zu begleiten. Was Russland betrifft, so sollte der Transformationsprozess – so er denn von Kräften aus Russland selbst in Gang gesetzt wird – unterstützt werden. Dabei sollte ein Rahmen gefunden werden, wie Russland in die demokratische Gemeinschaft in Europa eingebunden werden kann. Nicht die Rache für vergangene Verbrechen sollte im Vordergrund stehen, sondern die Unterstützung für den Prozess der Demokratisierung und Modernisierung Russlands.

Unabhängig davon beziehungsweise parallel dazu sollten Bemühungen um Rüstungsbeschränkungen und Rüstungskontrollen weitergehen. Auch das dient der Einbindung beziehungsweise Wiedereingliederung Russlands in multilaterale Strukturen. Das Ziel kann nicht sein, Russland auf Dauer zu isolieren oder in die Hände Chinas zu treiben. Wir brauchen auch keine Welt der zwei Blöcke, einen westlichen unter Führung der USA und einen östlichen unter Führung Chinas. Frieden, die Bekämpfung von globaler Armut und der Klimawandel brauchen globale Zusammenarbeit über das Blockdenken hinaus. Überdies werden ohnedies Mittelmächte wie die Türkei, Indien, Saudi-Arabien et cetera eine größere Rolle spielen, vielleicht auch in der Vermittlung zwischen dem Westen und Russland. (Hannes Swoboda, 1.12.2022)