Karin Fleischanderl und Gustav Ernst: "Wir sind der letzte Haushalt in Wien, wo noch über Literatur gestritten wird."

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Die Feier-Ausgabe der "Kolik".

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"Wir sind der letzte Haushalt in Wien, wo noch über Literatur gestritten wird", sagen Karin Fleischanderl und Gustav Ernst. Gott sei Dank! Seit 25 Jahren geben der Autor und die Übersetzerin die Literaturzeitschrift Kolik heraus. 1997 sind sie angetreten, um der allzu marktgängigen Schreiberei etwas entgegenzuhalten. Mit dem Literaturbetrieb sind sie heute noch unzufriedener als damals. Gute Gründe, nachzufragen.

STANDARD: Sie überblicken den Literaturbetrieb nun schon lange. Wie hat er sich in den 25 Jahren des Bestehens der "Kolik" verändert?

Fleischanderl: Er hat sich professionalisiert und kommerzialisiert. Für Einsteiger ist es leichter geworden, ein Buch zu machen. Vor 25 Jahren war das schwieriger. In meiner Jugend war das Literatendasein überhaupt etwas Weihrauchumwehtes. Mittlerweile ist alles sehr handwerklich, der Betrieb sucht dauernd junge Leute. Jedes Jahr eine neue Autorin, das ist das Schönste, was es für ihn gibt.

STANDARD: Autoren haben dank Social Media andere Möglichkeiten, sich darzustellen. Braucht es da die "Kolik" nach 92 Ausgaben denn noch?

Fleischanderl: Es geschieht immer noch, dass ein Verlag über eine Literaturzeitschrift auf einen Autor oder eine Autorin aufmerksam wird. Wir kriegen auch viele Einsendungen von jungen Autoren, aber die Qualität ... Doch vor 25 Jahren war das Format fürs Wahrgenommenwerden notwendiger. Literaturzeitschriften waren damals auch wichtiger, weil Kurzprosa noch mehr im Schwange war. Man hat Zeitschriften gebraucht, um solche Texte zu veröffentlichen. Jetzt wollen alle Romane schreiben oder etwas, das wie ein Roman ausschaut, weil sich das verkauft. Eine Erzählung interessiert niemanden mehr. Die Marktangepasstheit der Literatur hat sich verstärkt.

Ernst: Also zeigen wir in der Kolik her, was uns gefällt. Die Kolik ist ein Einspruch gegen den Markt. Heute noch mehr als vor 25 Jahren.

Fleischanderl: Sie ist eine Ergänzung.

STANDARD: Wofür treten Sie ein?

Fleischanderl: Es gibt eine althergebrachte autonome Literatur, die sich ihr eigenes Gesetz gibt. Aber die ist im Verschwinden begriffen, weil das Unterhaltungsbedürfnis immer mehr in die Literatur eingesickert ist. Mittlerweile werden Romane veröffentlicht, die wenig mit Literatur zu tun haben und nur mehr Themen aufarbeiten. Jeder, der nichtbinär ist, hat etwa gerade einen Pluspunkt am Markt. Wobei Kim de l’Horizons Blutbuch ein durchaus gutes Buch ist. Doch das wirkliche Literaturpublikum ist ja ganz winzig. Leute, die eine Freude an einem Absatz Jelinek haben, kann man wahrscheinlich an einer Hand abzählen. Alle anderen wollen zusätzlich Informationen. Ganz furchtbar finde ich, dass jetzt alle Autoren glauben, über den Krieg schreiben zu müssen. Das sollen die Journalisten machen! Robert Menasses EU-Romane – da ist nicht mehr viel Ästhetik, das ist irgendetwas anderes. Das Aufgreifen aktuell gefragter Themen macht die Literatur kaputt. Da kommt ein Schmarrn heraus. Ärgerlich ist dabei an sich nicht einmal, dass es diese Bücher gibt. Sondern dass man den Leuten sagt, das ist Literatur, und alles andere daneben untergeht.

Ernst: Es findet, möchte ich zugespitzt sagen, eine Diskriminierung von Literatur statt, die eine autonome Funktion wahrnehmen will.

STANDARD: Die Branche beschwört den Anwendungsnutzen von Büchern ja geradezu: Sie sind Leitmedium, Diskursmedium, systemrelevant ...

Fleischanderl: Die Branche ist in einer schweren Krise. Alles, was sie macht, ist Ausdruck einer Verzweiflung. Von Buchpreisen als Marketingtool bis zum Gastland Österreich in Leipzig nächstes Jahr. Das Buch ist nicht mehr Leitmedium. Jetzt muss die Branche alles Mögliche machen, um präsent zu bleiben.

STANDARD: Wie würde ein selbstbewusster Buchmarkt agieren?

Fleischanderl: Der Buchmarkt ist hypertroph geworden. Ich würde ihn gesundschrumpfen. Der Buchmarkt meiner Jugend in den 1970ern war optimal. Ein paar Bücher pro Jahr ...

Ernst: Das Unterhaltungsbedürfnis der Menschen ist legitim, und weil der Unterhaltungsmarkt groß ist, versucht der Buchmarkt, ihn zu bedienen. Das ist für den Buchmarkt okay, die Literatur bleibt dabei aber auf der Strecke.

STANDARD: Ein umfassendes Preis- und Fördersystem soll dem hierzulande entgegenwirken.

Ernst: Wodurch die prämierten Bücher aber alle ausschauen, als wären es bedeutende Werke. Nein, sind sie nicht! Das ist Geld, das ihnen zugeschanzt wird, weil sie es brauchen.

Fleischanderl: Prinzipiell ist das Fördersystem in Österreich ein Segen. Die Schattenseite ist aber, dass Autoren so lange dahinspintisieren können. Wenn sie 40 oder 50 Jahre alt werden, wird es dann kritisch. Denn gefördert werden hauptsächlich die Jungen. Ich kenne viele, die also aufgehört haben zu schreiben.

STANDARD: Wie sah Ihr Karriereplan einst aus?

Ernst: Ich habe mich vor 50 Jahren darauf verlassen, dass es funktionieren wird. Theaterstücke wurden zum Beispiel mehr nachgespielt, da ist immer wieder Geld hereingekommen. Heute wird nichts mehr nachgespielt.

STANDARD: Es gibt auch keine Literaturskandale mehr, die Aufmerksamkeit generieren wie einst um Bernhard oder Jelinek. Wie traurig ist das?

Fleischanderl: Es war schön für die Kunst, als es noch Tabus gab. Finanzskandale oder Faschismus, die die Literatur früher ans Licht zerren konnten, liegen ja heute auf der Hand. Eigentlich ein Verdienst der Öffentlichkeit.

Ernst: Ich glaube, dass vieles gar nicht mehr gedruckt und vermittelt wird. Peymann war so ein mutiger Vermittler. Aber das Burgtheater heute, dieser Dostojewski gerade ... Wo ist da das Zündende? Heute sind viele vorsichtig.

STANDARD: Stichwort Triggerwarnungen?

Ernst: Die Kopfzensur setzt schon früh an.

STANDARD: Die Literatur in 25 Jahren?

Ernst: Ich glaube, dass sie als kleine Kapsel für die, die Lust an der Form haben, überlebt.

Fleischanderl: Diese Frage wird uns in die Scheidung treiben. Ich glaube, dass Literatur ausstirbt. Das Bedürfnis nach Geschichten wird eh von anderen Medien befriedigt. Wir haben das Gefühl, Literatur ist etwas Ewiges. Aber nein, den Roman gibt es seit 300 Jahren! Die Literatur war Ausdrucksform des Bürgertums, und das gibt es ja auch nicht mehr. (Michael Wurmitzer, 30.11.2022)