In den USA kam es am Montagabend zu vielen Solidaritätsdemonstrationen. Hier halten zwei Frauen an der Berkeley-Universität in Kalifornien ein Schild in die Höhe.

Foto: JOSH EDELSON / AFP

Sicherheitskräfte demontieren ein Straßenschild in Schanghai. "Wulumuqi Lu" steht darauf – die chinesische Schreibweise für Urumqi, die Hauptstadt Xinjiangs. Noch am Wochenende war die Straße Schauplatz der größten Proteste Schanghais seit Jahren. Der Ort befindet sich im Zentrum der Stadt, in der Nähe der ausländischen Botschaften – und trägt den Namen jener Stadt, wo Ende vergangener Woche mindestens zehn Menschen bei einem Wohnhausbrand starben. Dieser Name musste sichtlich aus der Öffentlichkeit verschwinden.

Die meisten der Opfer waren wohl Uiguren, also Angehörige einer muslimischen Minderheit, die seit Jahren unter brutalen Repressionsmaßnahmen in China leidet. Im Anschluss entfachte sich ein seltener Protest, erst in Urumqi, dann in den meisten großen Städten Chinas.

Wie protestiert man in einem Land, in dem Protest verboten ist? In der Volksrepublik China kommt es im ganzen Land zu Straßenprotesten. Aber welche Protestformen sind in einem totalitären Regime überhaupt möglich?
DER STANDARD

Dass Anliegen ethnischer Minderheiten wie der Uiguren in Festlandchina für solche Aufregung sorgen, ist selten. Die meisten Han-Chinesen glauben der Staatserzählung, dass die in "Ausbildungsstätten" internierten Uiguren tatsächlich Terroristen sind.

Aufarbeitung fehlt noch

Doch in diesem Fall kam eine Ebene hinzu, mit der sich mittlerweile fast alle Bewohner Chinas identifizieren können. Es soll deshalb so viele Opfer gegeben haben, weil die Rettungskette blockiert war. Was genau passiert ist, ist noch nicht aufgearbeitet. Aber in den sozialen Medien Chinas war zigfach zu lesen, dass die Menschen das brennende Haus nicht verlassen konnten, weil die Türen aufgrund von Covid-Maßnahmen versperrt waren.

Seit über drei Jahren bekommen Menschen in ganz China schon die strenge Null-Covid-Politik zu spüren. Der Brand in Urumqi führte Millionen Menschen vor Augen: Das könnte ganz realistisch auch mir passieren. "Die Menschen haben einfach Angst", sagt ein Beobachter aus China, der anonym bleiben will, zum STANDARD.

Ärger über Lockdowns

Der Brand in Urumqi war außerdem kein Einzelfall. Im September starben 27 Menschen bei einem Busunglück in Guizhou, als sie gerade zur Quarantäne gebracht wurden. Es hagelte heftige Kritik in den sozialen Medien. In den vergangenen Wochen häuften sich auch die Unmutsäußerungen über Lockdowns in verschiedenen Städten.

Und Mitte November kam es bei einem Protest in einem iPhone-Fertigungswerk zu heftigen Zusammenstößen zwischen Arbeitern und Sicherheitskräften. Eigentlich ging es dabei im Kern um nicht ausbezahlte Boni, die den Arbeitenden im Rahmen der verschärften Covid-Bedingungen versprochen wurden.

So ist – anders als oft angenommen – Protest in China eigentlich keine Seltenheit, erklärt Daniel Fuchs von der Humboldt-Uni zu Berlin. Da gibt es eben Arbeiterproteste, Proteste über Landkonfiszierungen oder Umweltproteste. Solange solche lokal stattfinden, werden sie oft geduldet. Doch wenn sich die Protestbewegungen vernetzen, sei es überregional oder über verschiedene Themen hinweg, klingeln in Peking die Alarmglocken.

Und das ist der springende Punkt bei den aktuellen Protesten. "Sie inkludieren alle Teile der Bevölkerung", so Fuchs. Die Kritik richte sich außerdem direkt an die Zentralführung, nicht die lokale Ebene.

Dass die Proteste vom Wochenende so heftig ausfielen, sieht Fuchs nicht grundsätzlich als Zeichen der Schwäche des Staates. Sie haben viel eher alle überrascht. Denn auch Unmutsäußerungen im Netz werden in China, anders als oft angenommen, nicht automatisch zensiert, meint Fuchs. "Sie werden dann zensiert, wenn es zum Aufruf kommt, dass man sich organisieren sollte, oder wenn es um konkrete Proteste geht."

App-Kontrollen

Nach dem Protestwochenende reagierte Peking wiederum rasch und effektiv. Die chinesische Führung hat ein hartes Durchgreifen bei neuen Unruhen angedroht. Die Politik- und Rechtskommission der Kommunistischen Partei machte auch "feindliche" Elemente für die Störung der öffentlichen Ordnung verantwortlich, wie Staatsmedien berichteten.

In Schanghai wurden in den öffentlichen Verkehrsmitteln bereits die Telefone von Passanten auf Apps wie Telegram oder Twitter untersucht. Wer so eine App installiert hat, musste seine Daten angeben, genauso wie jene der Eltern – ein beliebtes Werkzeug chinesischer Kontrolle. Aus Wuhan kursierten Meldungen über die Rekrutierung von Tagelöhnern als Sicherheitskräfte, für 300 bis 500 Yuan pro Nacht – circa 40 bis 66 Euro.

Neben repressiven Maßnahmen versucht die Regierung aber auch, die Menschen mit Lockerungen zu besänftigen. Studierenden an Unis, die sich auch darüber beschwerten, dass sie am Campus eingesperrt seien, wurden Busse geschickt, die sie nach Hause brachten. In einer Provinz im Norden ließen lokale Behörden die täglichen Testungen aus.

Dass es zu noch größeren Protesten kommen könnte, bezweifeln daher viele Beobachter. Taisu Zhang von der US-Uni Yale schrieb auf Twitter, dass der Staat genug Kapazitäten habe, diese zu verhindern. Er ortet aber sehr wohl einen Verlust des Vertrauens in die Politik.

"Gefährlich für Xi Jinping"

Bisher seien Unmut und Frust vor allem im familiären, privaten Kreis ausgetauscht worden, erzählt der Beobachter aus China. Da geht es um Ärger über Präsident Xi Jinping oder die Trauer über den Tod von Angehörigen, die aufgrund der rigiden Strategie nicht ins Spital konnten. Doch nun sehe man, dass man mit seinem Unmut nicht allein sei: "Nun weiß jeder, dass andere genauso denken. Das ist neu. Und sehr gefährlich für Xi Jinping."

Genau jene Unzufriedenheit soll deshalb, so gut es geht, unsichtbar bleiben. Nicht nur die Straßenschilder der Urumqi-Straße sind weg. Drumherum wurden auch Barrikaden errichtet. "Das ist die Mentalität der Regierung", so der Beobachter, "wenn es ein Problem gibt, bau einfach eine Mauer drum herum." (Anna Sawerthal, 30.11.2022)