Die Erde befindet sich in einem idealen Abstand zur Sonne, um lebensfreundliche Temperaturen zu ermöglichen. Auch die Eisforschung freut sich über die Distanz zur Sonne: Stünden wir ihr um fünf Prozent näher, würden nie Gletscher entstehen. Fünf Prozent weiter weg von der Sonne hingegen hätten wahrscheinlich eine permanent vereiste Erde zur Folge.

Ohne das Eis der Erde wären auch die Dänin Dorthe Dahl-Jensen und der Niederländer Johannes "Hans" Oerlemans in einem anderen Spezialgebiet als der Glaziologie gelandet. So aber trugen sie wesentlich dazu bei, dass sich Fachleute mithilfe von Eisbohrkernen auf eine Zeitreise in die Vergangenheit vor hunderttausenden Jahren machen können – und mit Modellen in die Zukunft des Eises blicken.

Dafür wurden die beiden vergangene Woche in Rom mit einem der hochdotierten Balzan-Preise geehrt. Die Hälfte der 750.000 Schweizer Franken – umgerechnet derzeit rund 764.000 Euro – muss für ein Projekt mit Beteiligung junger Forschender aufgewendet werden.

Johannes Oerlemans und Dorthe Dahl-Jensen erforschen altes Eis.
Foto: Internationale Stiftung Balzan-Preis

Den wissenschaftlichen Nachwuchs fördern Oerlemans und Dahl-Jensen gemeinsam mit dem österreichischen Glaziologen Georg Kaser von der Uni Innsbruck bereits seit Jahren: Sie bauten die Karthaus Summerschool auf, bei der Studierende in Südtirol ihr Fachwissen erweitern. Vielleicht half sie den beiden Klimaforschenden mit den schneeweißen Haaren auch, jung zu bleiben – was sich äußerlich an Dahl-Jensens Sidecut-Frisur und Oerlemans' heiterer Nervosität bei öffentlichen Reden zeigt.

Durch detektivische Arbeit lassen sich am Eis einstige Temperaturen und CO2-Konzentrationen in der Luft ablesen – klarer als durch andere Methoden. Damit sind Gletscher und Eisschilde gerade in Zeiten des Klimawandels wichtige Archive – die durch ihr Abschmelzen für den Anstieg des Meeresspiegels und schwindende Süßwasserquellen sorgen.

STANDARD: Welche Epoche der Vergangenheit lässt sich am besten mit dem heutigen Klima vergleichen?

Dahl-Jensen: Vor etwa 5.000 bis 8.000 Jahren war es etwas wärmer als heute. Wir wissen relativ viel über diese Zeit, weil sie noch nicht so lange her ist: Trotz der höheren Temperaturen war es am Mittelmeer damals nicht so trocken. Auch weite Teile Afrikas waren üppig bewachsen. Ein wichtiger Unterschied ist aber, dass der derzeitige Temperaturanstieg mit mehr Treibhausgasen in der Atmosphäre zusammenhängt. Damals lag das an der veränderten Sonneneinstrahlung auf die Erde.

STANDARD: Was antworten Sie Menschen, die argumentieren, dass es schon vor uns wärmere Epochen gegeben habe und man sich wegen der globalen Erwärmung keine Sorgen machen müsse?

Oerlemans: Die Veränderungen, die wir hervorrufen, passieren unglaublich schnell: In nur 100 Jahren stieg der CO2-Gehalt der Luft von 280 auf mehr als 400 Parts per Million (ppm). Das ist einzigartig – und riskant, weil wir unser Klimasystem nicht vollends verstehen.

STANDARD: Noch nie gab es also derartig hohe CO2-Konzentrationen.

Vor rund 120.000 Jahren war es in Grönland um fünf Grad wärmer. Ein ähnliches Niveau könnte die Arktis, die sich stärker erhitzt als andere Regionen der Erde, bis 2100 wieder erreichen.
Foto: Leamus/Getty/iStock

Dahl-Jensen: Genau. Unsere Daten reichen 800.000 Jahre in die Vergangenheit, und die Luftblasen in Eisbohrkernen aus der Antarktis zeigen uns, dass es in dieser Zeit nie Werte über 300 ppm gab. Nicht einmal während der Eem-Warmzeit vor etwa 120.000 Jahren, als es in Grönland fünf Grad wärmer war und der Meeresspiegel um zwei Meter höher lag. Ähnlich stark könnte sich die Arktis übrigens noch vor 2100 aufheizen. Wie weit müssten wir zurückreisen, um auf mehr als 400 ppm zu kommen, Hans?

Oerlemans: Vielleicht zehn Millionen Jahre.

STANDARD: Wann wird es mit der globalen Erwärmung vorbei sein?

Oerlemans: In etwa 50.000 Jahren.

Dahl-Jensen: Der Erde kann es natürlich egal sein, wenn der CO2-Anteil steigt. Aber wir müssen uns Sorgen machen, weil derzeit so viele Menschen auf der Erde leben und wir sehr starke Nationen mit Grenzen dazwischen geschaffen haben. Das macht es für viele schwierig, in ein anderes Land zu ziehen.

STANDARD: Was ist die größte Herausforderung für uns Menschen?

Dahl-Jensen: Für mich sind das vor allem für die kommenden 20 Jahre Klimakriege und Unruhen. Denn manche Regionen werden unbewohnbar – durch Dürren und den Anstieg des Meeresspiegels. Wir sehen jetzt schon, wie schlecht wir in Europa mit Geflüchteten zurechtkommen. Werden wir Menschen, die aufgrund des Klimawandels flüchten, kollektiv erlauben, woanders zu leben?

Oerlemans: Außerdem wurde schon im Club-of-Rome-Bericht vor 50 Jahren die Diskussion angestoßen, ob nicht zu viele Menschen auf der Erde leben. Das hängt eng mit Wirtschaftssystemen zusammen: In vielen Ländern braucht man viele Kinder, um zu überleben. Außerdem kann man gute Lebensqualität ohne ökonomisches Wachstum haben – wir müssen dringend Lebensqualität neu definieren. Ich bin enttäuscht von Personen, die glauben, dass sie etwas für das Klima tun, indem sie einen Range Rover mit Elektroantrieb kaufen.

Aus Eisbohrkernen lässt sich viel Information gewinnen: Eingeschlossene Gasbläschen weisen etwa auf den CO2-Gehalt der Luft früherer Zeiten hin, Pollen und Moose geben Aufschluss über die einstige Vegetation.
Foto: Reuters / Lisi Niesner

STANDARD: Herr Oerlemans, Sie haben in Ihrem Vortrag erwähnt, dass wir in Sachen Energiewende schon 30 Jahre verloren haben.

Oerlemans: Mindestens so lange hat die Gesellschaft gebraucht, um den Klimaforscherinnen und Klimaforschern zu glauben. Anfang der 80er-Jahre habe ich in Deutschland im Parlament darüber gesprochen.

Dahl-Jensen: Die Regierungen fänden es aber wohl besser, wenn es mit den Maßnahmen gegen den Klimawandel erst fünf Jahre, nachdem sie gewählt wurden, losgeht. Für uns ist es schwierig, sie von der Dringlichkeit zu überzeugen. Wir können nicht warten.

STANDARD: Wo ziehen Sie die Grenze zwischen Wissenschaftskommunikation und Aktivismus?

Oerlemans: Nun, bisher klebte ich noch an keinem Gemälde. Ich würde auch nicht sagen, dass ich ein Klimaaktivist bin, aber ich habe viele Vorträge gehalten. Da habe ich den Eindruck, das ist etwas, was ich beitragen kann. Außerdem versuche ich, direkte Verbindungen zu Politikerinnen und Politikern zu knüpfen. Das wird aber immer schwieriger, weil wir seltener direkt mit ihnen in Kontakt kommen. Dafür gibt es Beratungsagenturen, die Fachinformationen zusammenfassen, bunte Grafiken erstellen und das teuer ausschicken. Ich nenne das Klima-Bürokratie. Vor 40 Jahren war das einfacher.

Dahl-Jensen: Es ist unsere Pflicht, über das Klimasystem zu informieren. In Zeitungen werden alle möglichen Leute nach ihrer Meinung gefragt. Meiner Ansicht nach sollten auch Forschende ihre Meinung ausdrücken können und nicht nur in der Wetterstation Temperaturen ablesen. Wenn Aktivistinnen und Aktivisten fragen würden, ob ich vorbeikomme und eine Rede halte, würde ich wahrscheinlich Ja sagen.

STANDARD: Also würden Sie sie in dieser Hinsicht unterstützen?

Dahl-Jensen: Auf jeden Fall. Ich bin begeistert davon, was die jungen Leute bewegt haben, das ist extrem wichtig. Greta Thunberg ist für mich manchmal etwas zu sehr in Weltuntergangsstimmung.

Oerlemans: Sie hat allerdings ein enormes Bewusstsein geschaffen.

Dahl-Jensen: Ja, soweit ich weiß, hat das bei jungen Menschen aber auch dafür gesorgt, dass sie glauben, dass die Welt untergeht.

STANDARD: Sie sind also noch hoffnungsvoll?

Dahl-Jensen: Ich denke, wir haben keine andere Wahl, als hoffnungsvoll und optimistisch zu sein. Es ist deprimierend zu sehen, wie wir uns noch mehr Probleme schaffen. Aber wir müssen weiter Klimaforschung betreiben, bessere Batterien entwickeln – wir brauchen die hellen Köpfe, die daran weiterarbeiten.

Oerlemans: Und wir brauchen den politischen Mut zur Veränderung. (Julia Sica, 5.12.2022)