Es ist das erste Mal, dass ein Pirat wie Ivan Bartoš ein derart hochrangiges Amt in der EU bekleidet. Die Partei ist bekannt für ihren Fokus auf Bürgerrechte und Datenschutz.

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Inmitten des Ukraine-Krieges hat Tschechien im Juli dieses Jahres die EU-Ratspräsidentschaft übernommen. Für die Verhandlungen der digitalen Agenden ist Ivan Bartoš verantwortlich, er ist Vorsitzender der tschechischen Piratenpartei und Digitalisierungsminister. Dass ein Mitglied dieser auf Datenschutz und Bürgerrechte fokussierten Partei eine derartige Stelle bekleidet, ist ein Novum.

STANDARD: Herr Bartoš, einer der aktuell meistkritisierten EU-Gesetzesentwürfe ist die Chatkontrolle. Diese soll besseren Schutz vor Kindesmissbrauch im Internet garantieren. Datenschützer und Mitgliedsstaaten befürchten hingegen eine Unterwanderung verschlüsselter Kommunikation. Wie stehen Sie dazu?

Ivan Bartoš: Die Tschechische Republik als Land steht dem Vorschlag neutral gegenüber. Aber ich verstehe das Problem, einen Briefumschlag auf dem Postamt zu öffnen, nur weil sich ein Drohbrief darin befinden könnte. Die Verschlüsselung von Kommunikation und die Privatsphäre der Bürger sind von entscheidender Bedeutung. In meinem Leben als Politiker gab es bereits mehrmals den Versuch, etwas ähnliches durchzusetzen. Einmal im Kampf gegen Kinderpornografie, wegen dem Urheberrecht und im Kampf gegen Terrorismus. Wir müssen zielführende Maßnahmen ergreifen, aber wir sollten nicht die gesamte verschlüsselte Kommunikation im Internet unterwandern. Von Big Tech erwarten wir, genau das nicht zu tun. Nicht zuzuhören, Werbung nicht auf die Inhalte von Chats oder E-Mails zu stützen. Wir müssen das Problem stattdessen auf der Erziehungsebene bekämpfen. Eltern müssen über Gefahren aufklären und Internetdienste so anpassen, dass die Bedrohungen minimiert werden. Sie lassen Ihre Kinder auch nicht bei Rot über die Straße gehen. Dasselbe gilt im Internet.

"Wir sollten nicht die gesamte verschlüsselte Kommunikation im Internet unterwandern."

STANDARD: Eines der aktuell wichtigsten Projekte, an denen Sie arbeiten, ist die E-ID, ein digitaler Ausweis also. Auch hier gibt es Bedenken zu möglichen Verletzungen der Privatsphäre. Teilen Sie diese Sorge?

Bartoš: In Europa stehen die Bürger im Mittelpunkt des Interesses. Das bedeutet einerseits, dass wir bestimmte Dienste anbieten wollen, andererseits, dass wir Wert auf Privatsphäre legen. Diese Privatsphäre kann entweder von einem Staat ausgenutzt werden, der von einem demokratischeren Weg in Richtung mehr Kontrolle und Autorität abweicht, oder von Unternehmen. Da wir die Gesetzgebung vorbereitet haben, sprechen wir mehr über die Prinzipien als über die technische Lösung. Als Präsidialstaat kann man seine Meinung nicht wirklich durchsetzen. Vielmehr muss man alle von den verschiedenen Mitgliedsstaaten vertretenen Grundsätze abwägen. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie für weniger Kontrolle und mehr Verschlüsselung sind oder ob es sich um einen Staat handelt, der sich auf die Verhinderung von Kriminalität fokussiert. Man folgt also der Hauptanforderung einer möglichst sicheren Anwendung mit einem minimalen Risiko, ausgenutzt zu werden. Vom grünen Pass haben wir viel über das Datensharing gelernt, hier war der Anwendungsfall aber recht simpel. Bei einer E-Wallet ist das komplizierter.

STANDARD: Laut der EU-Kommission sollten teilnehmende Unternehmen verpflichtet werden, ihre Anwendungsfälle für die E-ID zentral zu registrieren. Tschechien möchte diese Aufgabe den Mitgliedsstaaten überlassen. Warum?

Bartoš: Die Anwendungsfälle hängen von der Gesetzgebung des jeweiligen Staates ab. Wenn ich in einem bestimmten Land ein Auto ausleihen möchte, beweist die E-Wallet, dass ich ein europäischer Bürger bin und einen Führerschein besitze. Der Autovermieter braucht nicht einmal meinen Namen, es sei denn, ich verursache einen Unfall. In diesem speziellen Anwendungsfall würde die Versicherungsgesellschaft wahrscheinlich gerne alle Daten zum Vertragsabschluss haben. Es ist schwer zu sagen, ob man dies auf höchster Ebene regeln sollte und bestimmte Dinge obligatorisch machen kann – oder ob man das auf nationaler Ebene umsetzen sollte. Die Bedingungen sind in vielen Ländern sehr unterschiedlich.

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STANDARD: Birgt das nicht die Gefahr eines Flickenteppichs unterschiedlicher Gesetzgebungen?

Bartoš: Die E-Wallet selbst bietet ein hohes Maß an Sicherheit. Viele Länder haben unterschiedliche Anwendungsfälle vor Ort, bei denen sie diese hohe Sicherheitsstufe nicht nachweisen müssen. Wir bieten einen Mechanismus, der mit vorhandenen E-IDs kompatibel ist und sie auf technischer Ebene verbessert.

STANDARD: Mehrere EU-Kommissare, darunter Margrete Vestager und Thierry Breton, befürworten die Idee, Tech-Konzerne wie Netflix und Google für den Netzausbau in Europa zahlen zu lassen. Kritiker sehen darin eine Gefahr für die Netzneutralität. Befürworten Sie eine solche Maßnahme?

Bartoš: Auf geschäftlicher Ebene kann ich die Versuche, das Ökosystem umzugestalten, durchaus verstehen. Aber die Infrastruktur ist ohnehin vorhanden, also sollte sie jede Art von Daten übertragen. Die Telekomunternehmen müssen miteinander konkurrieren und einen besseren Service und bessere Tarife anbieten. Es ist nicht fair von ihnen, von Politikern zu verlangen, den Markt umzugestalten, wenn es keinen Grund dafür gibt. Dasselbe gilt für das Leistungsschutzrecht für Nachrichtenkonzerne. Niemand liest einen zwei Tage alten Artikel, es sei denn, er wird in sozialen Netzwerken oder in einem Newsfeed geteilt. Das Geschäftsmodell einer Suchmaschine kannibalisiert nicht die Herausgeber von Inhalten, sondern bewirkt genau das Gegenteil. Sie bringen Traffic auf die Seiten.

STANDARD: Tschechien hat die Ratspräsidentschaft inmitten des Ukraine-Kriegs übernommen. Hat das Ihren Themenfokus beeinflusst?

Bartoš: Der Krieg hat viele der Erfordernisse, mit denen wir bereits während der Pandemie konfrontiert waren, hervorgehoben. Bestimmte Maßnahmen hat er beschleunigt, vor allem diejenigen, die zu mehr Widerstandsfähigkeit im digitalen Bereich führen. Staaten, die ihre digitale Weiterentwicklung während der Covid-Krise vorangetrieben haben, hatten auch einen Vorsprung, als die Energie- und Inflationskrise einsetzte. Zum Beispiel bei der Hilfe für Bürgerinnen und Bürger. Wenn man auf bestimmte Bedürfnisse eingehen will, ist es besser, ein vernetztes E-Government zu haben. Erhebliche Fortschritte sehe ich also nicht nur im Bereich der Energiewende, sondern fast überall. Die Digitalisierung ist dabei der Rahmen – und in vielen Fällen auch Voraussetzung für Innovation, zum Beispiel in der Landwirtschaft und bei intelligenten Energienetzen. (Mickey Manakas, 1.12.2022)