Foodie-Fundis, ihr müsst jetzt tapfer sein! Hier wird nämlich die These aufgestellt, dass für euren Fundamentalismus genau das Gleiche gilt wie für alle anderen Fundamentalismen: Der Glaube an das einzig wahre und gültige Rezept ist eine zeitgenössische Erscheinung! Authentizität ist eine moderne Erfindung. Das Narrativ rund um ein Gericht soll euren Glauben festigen und zum Fanatismus erziehen, der keine Abweichung duldet.

Nichts taugt den Anhängern der Kochorthodoxie besser zum Shitstormen als die italienische Küche und da wiederum die Carbonara. Bekannte Köche werden in regelmäßigen Abständen durch Social Media geprügelt, meist, weil sie nicht Guanciale – jeder Rechtgläubige hat immer ein Trumm davon im Eiskasten! –, sondern einen anderen Speck verwenden. Kein Missverständnis bitte, ich bin selbst eine Anhängerin des luftgetrockneten ungeräucherten Wangenspecks für die Carbonara. Und nein, ich verwende auch kein Obers. Das ändert nichts daran, dass man in vielen älteren Kochbüchern, auch in italienischen, genau dieses im Rezept findet.

Carbonara taugen zum Shitstorm.
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"Bacon fantastico"

Also, wieder einmal der aktuelle Carbonara-Forschungsstand laut Grande enciclopedia della gastronomia von 2008: Sorry guys, es war "bacon", im schlimmsten Fall Eipulver, Käse nicht spezifiziert, aus Armeeverpflegung eben. Die erste "offizielle" Carbonara wird schon etwas sorgfältiger gemacht gewesen sein: zubereitet im September 1944 im soeben befreiten Riccione bei einem Essen für britische und amerikanische Militärs. Der Küchenchef, Renato Gualandi, schwärmte vom "bacon fantastico", den ihm die Amis zur Verfügung stellten.

Erstmals in einem Restaurantführer taucht die Carbonara 1952 auf: in einem italienischen Restaurant in, erraten, Chicago. Armando’s (bitte richtig aussprechen). Nichts ist es also mit den Carbonari, den im Walde hausenden Köhlern, wobei die ja, wie überall in Italien – vor allem vor der Ausbreitung der Paradeiser – Pasta mit Speck und Schafskäse gegessen haben werden. Die Eier? Nichts darüber bekannt.

"Chef Ruffi" sorgt seit Jahren für Aufregung, indem er in seinen Youtube-Videos italienische Gerichte mit Zutaten zubereitet, die man vermeintlich nicht verwenden "darf."
Chef Ruffi

Nur noch eine Variante

Woher dieser Glaube an Authentizität, an die einzige Wahrheit auch beim Kochen, an die Absolutheit der Identität eines Gerichts und seiner Herkunftsumgebung kommt? Lange Geschichte. Damit beschäftigt sich unter anderem die Ambiguitätsforschung beziehungsweise die Erforschung des Verlusts der Ambiguität, die dazu führt, dass nicht mehr mehrere Varianten nebeneinander existieren dürfen. Wir wollen die Vereindeutigung der Welt, wie ein Essay von Thomas Bauer heißt. Eines ist richtig, alles andere falsch.

Vanillekipferln mit Mandeln: richtig. Vanillekipferln mit Haselnüssen: falsch. Ein Blick in fast jedes ältere Kochbuch falsifiziert das. Zu besonders populären Gerichten wird oft eine ganze Reihe von Varianten angeführt: Das kann man auf diese oder jene Art machen, mit diesen oder jenen Zutaten. So oder so.

Mandeln, Hasel- oder Walnüsse: Was ist richtig, was ist falsch im Vanillekipferl?
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Aber besonders schräg ist es eben, wenn sich die ganze Herkunftsgeschichte als nicht haltbarer Kitsch erweist, wie bei der Carbonara. Gerade was die italienische Küche betrifft, mag ja das Pochen auf die richtige Version auch etwas mit den kulinarischen Verirrungen zu tun haben, die der Massentourismus nach dem Zweiten Weltkrieg mit sich brachte. Sie haben schon was mitgemacht, die Italiener. Ich sage nur: Ananas auf der Pizza.

Spaghetti bolognese

Nicht alles geht, manches ist grauslich, anderes einfach technisch "falsch" – oder "richtig", so wie Tagliatelle und Konsorten für das Ragù alla bolognese. Nicht umsonst wurde das "Originalrezept" 1982 bei der Handelskammer Bologna hinterlegt, nach wer weiß nicht vielen Tonnen "Spaghetti bolognese", die an Touris verfüttert worden waren.

Ja, was so alles echt italienisch ist. Liebe Italien-Romantiker und -Romantikerinnen, wenn ihr euch das nächste Mal eine Caprese – mozzarella, pomodoro, basilico – auf den Teller schichtet, denkt daran, dass sie ein Geisteskind des Faschisten und Futurismus-Begründers Filippo Tommaso Marinetti ist, der sie zum ersten Mal 1926 im Hotel Quisisana auf Capri aß. Er hasste Pasta und forderte deren Abschaffung! In seinem Manifesto della cucina futurista von 1931 hielt er fest, dass Pastasciutta das italienische Volk "verrohe", skeptisch, langsam und pessimistisch mache. Sagt das nicht der Giorgia Meloni. Viva la Carbonara, la Bolognese e la Caprese! (Gudrun Harrer, 4.12.2022)