Im Winter wird in Al Ahsa ab 15 Uhr gekickt, im etwa 45 Grad heißen Sommer erst später.

Foto: Sadiq Almoa’any

Endlich kommt der Stacheldraht. Die Fahrt von Doha war fad, eine Stunde vorbei an Sand und ein paar Sträuchern, durch eine Landschaft flach wie das Marchfeld. Dort überholt man aber keine Kameltransporter. Ein Dorf und eine Kamelfarm lagen entlang der Autobahn, sonst Sand, Sand, Sand. Mit Fahrer ist die Grenze eine simple Angelegenheit. Warum fünf verschiedene Menschen an fünf verschiedenen Checkpoints den Pass anschauen, muss man nicht verstehen, aber in einer guten halben Stunde ist alles erledigt, und man ist in dem Land, das in acht Jahren womöglich die WM ausrichtet.

Klingt absurd? Mitnichten. Für die besten Kunden der Fifa ist die WM in Katar ein Erfolg – ein Biersponsor vielleicht ausgenommen. Da sich zwar das Vergabeprozedere, nicht aber die generelle Verfasstheit des Fußballfunktionärswesens geändert hat, ist eine Winter-WM 2030 in Saudi-Arabien, Ägypten und Griechenland realistisch.

Riesenstaat

Nach der Grenze: Nichts. Nicht einmal Kamele, nur Warnschilder und ein Zaun, der sie von der Straße fernhält. Alle paar Kilometer wartet ein Polizeiauto, verlassene Bagger stehen rechts der Straße vor Dünen. Nach Sandstürmen räumen sie die Autobahn frei. Der Fahrer bemerkt den suchenden Blick nach Notierbarem: "Hier ist nur die Straße." Nur das nervige Gepiepse, wenn der Toyota schneller als 120 km/h fährt, durchbricht die Monotonie.

Al Ahsa 120 km, Riad 452 km, Mekka 1347 km, lehrt ein Schild. Saudi-Arabien ist ein verdammt großes Land, fast 26-mal so groß wie Österreich und 186-mal so groß wie Katar. 35 Millionen Menschen leben hier, davon sollen 22 Millionen Staatsbürger sein. Dass da mehr fähige Kicker rauskommen als in Katar, weiß die Welt spätestens seit dem 2:1 gegen Argentinien.

"Jeder spielt hier Fußball. Manche hören nur auf, wenn sie zu arbeiten beginnen oder heiraten", sagt Yousif. Er kommt aus Al Ahsa, wie alle hier spricht er es "Al Hasa" aus. Yousif ist Videoproduzent, zeigt dem STANDARD die Stadt und, natürlich: Er spielt Fußball. Man kann in Al Ahsa keine zwei Minuten Auto fahren, ohne an einem Platz vorbeizukommen. Kinder kicken, Jugendliche kicken, Erwachsene kicken, Frauen und Mädchen kicken nicht. Die Spielfelder sind selten abgezäunte Kunstrasen-, viel häufiger offene Sandplätze.

Auch vor Sehenswürdigkeiten wird in Al Ahsa gekickt.
Foto: Martin Schauhuber

Trainiert wird Standardmäßig jeden Tag. "Die Nummer fünf unseres Nationalteams hat auf diesem Sand das Spielen gelernt", sagt Yousif. Goalie Mohammed Al Owais ist auch hier geboren, aber, wirft ein alter Tormanntrainer ein: "Der hat es in Riad bei Al Shabab gelernt." Ein Hauptstädter. Die Menschen in Al Ahsa nennen sich bescheiden, nicht so wie die Leute in Riad oder Dschidda. Noch ist ihre Heimat beschaulich. "Mit MbS hat sich alles geändert. Al Ahsa bekommt auch eine Downtown", erzählt Yousif, und er findet das gut. MbS ist Mohammed bin Salman. Der Kronprinz hat längst die Macht übernommen.

MbS spielt – wenn auch aus geringfügig anderen Gründen – das Spiel, das Katars Emir seit 2015 spielt. Mit Sportswashing unterfüttert er die sanfte Öffnung des Wahhabitenreichs. Man kauft sich auf die soziale Weltkarte. Saudi-Arabien hat bisher vor allem Motorsport, Kampfsport und Golf für sich entdeckt, aber natürlich wäre die WM der größte Fang.

Ballestern mit Begeisterung

Der Einzug ins heurige Achtelfinale wäre ein willkommener Appetizer gewesen, misslang aber durch ein 1:2 gegen Mexiko. Die Regierung zahlte 100 Mitarbeitern jedes Erstligisten, 50 jedes Zweitligisten, 25 jedes Drittligisten und 15 jedes Viertligisten den Trip zu den drei Matches, Taschengeld inklusive. Eine große Flagge gab’s beim Grenzübergang zum Mitnehmen. Der saudische Staat ist generell fußballförderfreudig. Jedes ausverkaufte Heimspiel belohnt die Regierung mit rund 250.000 Euro.

Auch wenn das Geld nicht von ganz oben kommt, ballestert man hier mit Begeisterung. "Die ersten zwei Wochen im Ramadan gibt es nur Fußball", sagt Yousif und zückt während eines Spurwechsels sein Handy. Er zeigt Highlightvideos von hochprofessionellen Übertragungen und erklärt, dass sich diesen Cup nur Hobbyteams ausspielen. Die Matches sind freilich nach Sonnenuntergang. "Manchmal spielen wir auch um vier Uhr früh", sagt Yousif. Sollte eine Hobbytruppe in die vierte Liga einsteigen wollen, greift die Regierung mit einem Satz Ausrüstung unter die Arme.

Die Tribünen sind nicht immer taufrisch.
Foto: Martin Schauhuber

21.50 Uhr, gleich ist Anpfiff zum "wichtigsten Spiel aller Zeiten", wie es ein Bursche beim Public Viewing formuliert. Saudi-Arabien muss Mexiko schlagen, etwa 200 Leute sitzen in einem grün ausgeleuchteten Zelt. Es duftet nach Shisharauch und den Parfums, die an einem Stand verkauft werden. Vor einigen der weißen Ledersesseln steht ein kleiner Couchtisch schwedischer Machart. Die Klimaanlage zeigt 17 Grad. Grüne Teamdressen sieht man kaum, die meisten sind in traditioneller Kleidung hier, einige in T-Shirt oder Hemd. Manche der zahlreichen Frauen tragen Nikab, manche Mund-Nasen-Schutz, alle zumindest ein Kopftuch.

Auch das saudische Fernsehen hat eine Krake Paul, hier ist es ein Falke. Er holt sich den Mexiko-Kadaver und wird dafür ausgebuht. Der Falke wird recht behalten. Auch in diesem Zelt in Al Ahsa wird mitgefiebert und mitgelitten wie bei jedem anderen gemeinschaftlichen Fußballschauen. In Minute 20 verteilt ein Mädchen kleine Flaggen. Der arabische Kommentator schwebt in einem Wirbel der Dauererregung.

Katar, nur schlimmer

Als drei Minuten nach der Pause das erste Gegentor fällt, sind viele noch auf dem Weg zu ihren Plätzen. Die, die zurück sind, kritisieren die Wechsel des Trainers. Auch Saudi-Arabien hat Millionen Teamchefs. Mit dem 0:2 ist die Luft draußen, immerhin fällt in der Nachspielzeit der Ehrentreffer. Trotzdem ist die WM vorbei. Nach dem 2:1 gegen Argentinien hatte König Salman einen Feiertag ausgerufen. "Morgen müssen wir Überstunden machen", scherzt Yousif beim Gehen.

Szenen wie in Katar, als zahllose Scheichs nach einer Stunde genug von den Spielen hatten, würde es in Riad oder Dschidda wohl nicht geben, ein wesentlich größeres Problem aber sehr wohl: den Umgang mit Menschenrechten. Was NGOs in den vergangenen Monaten und Jahren mit Fug und Recht an Katar kritisiert haben, ist in Saudi-Arabien noch um zwei Grade schlimmer. Freedom House gibt Katar im Freiheitsindex 25 von 100 Punkten, bei Saudi-Arabien sind es sieben. Human Rights Watch kritisiert die Monarchie für die Repression von Aktivistinnen, die Militärkampagne im Jemen und die Ermordung des Dissidenten Jamal Khashoggi.

Beim Public Viewing sitzt man da schon edler.
Foto: Martin Schauhuber

Doch auch als Katar 2010 die WM bekam, warnten genau diese Organisationen vor dem Golfstaat. Die Fifa hat sich als Meister des Lavierens und der Lippenbekenntnisse erwiesen, bindende Menschenrechtsklauseln in Ausrichterverträgen werden nicht einmal diskutiert. Immerhin, würden Zyniker sagen, werden die Saudis nicht so ein sportlich schwacher Gastgeber sein. Nicht, solange die Kinder auf Al Ahsas Sandplätzen kicken. (Martin Schauhuber aus Al Ahsa, 2.12.2022)