Zuerst dem Körperlichen widmen – zumindest in Berlin.

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Vor einer Woche spazierten mein Freund, der wilde Künstler, und ich durch die Wiener Nacht. Wir waren beide auf einer Geburtstagsfeier eingeladen gewesen. Weil wir seit dem Sommer nicht nur BFF’s, sondern auch Nachbarn sind, gingen wir jetzt zusammen nach Hause. Der Asphalt glänzte schwarz. Ein dünner, blasser Mond tauchte über den Dächern auf. Und da, gerade als wir um die Ecke in unsere Straße einbogen, sahen wir sie: zwei Männer in einem Hauseingang. Sie standen eng hintereinander, der eine stützte sich an der Hausmauer ab, und sie atmeten schwer.

Liebe in der Nacht

Die Luft rund um den Hauseingang wirkte elektrisch. Wir blieben in angemessenem Abstand stehen, und ich flüsterte: "Oh." — Der wilde Künstler verhielt sich überraschend diskret und sagte nichts. Dann gingen wir weiter. Wenig später war er wieder ganz der Alte, zückte sein Mobiltelefon und sagte: "Da, schau." — Seit Jahren pendelt der wilde Künstler zwischen Wien und Berlin. Weil seine Bleibe am Prenzlauer Berg gerade renoviert wird, musste er eine "neue Spitzenbraut", wie er die Frauen seiner Wahl nannte, vertrösten. Jetzt hielt er mir ihre Antwort-SMS unter die Nase. Schwarz auf Weiß stand da: Dann lass es uns eben in einem Hauseingang treiben. Das war keine mehrfach ironisch gebrochene Dating-Poesie, sondern eine klare Ansage. — "So läuft das in Berlin, auch für Heteros", rief er triumphierend. Zuerst würde man sich dem Körperlichen widmen. Danach schauen, was sich sonst noch ergibt.

Transzendentale Erotik

Sind Singles hierzulande wirklich zu unentschlossen? Zu spießig und zu kompliziert? Ich zog all diese Möglichkeiten in Betracht. — "Bei mir ist das Körperliche nur eine mögliche Folge. Es beginnt alles im Kopf", sagte ich schließlich, als wir den Lift betraten. Dann verabschiedeten wir uns.

Mit Charme über den Kurfürstendamm

Am nächsten Morgen fuhr der wilde Künstler für eine Ausstellung nach Berlin. — "Na, hast du dich ausgetobt?", begrüßte ich ihn, als er zurück war. Er besitzt Energien für zehn. Deshalb freue ich mich immer, wenn es in seinem Leben hochtourig läuft. — "Ach, weißt du", antwortete er, "ab fünfzig brauchen die Frauen auch in Berlin etwas mehr Drumherum." — "Du meinst Charme und Komplimente? Reden und Restaurants?" — "Ja, so etwas in der Art", lächelte er. Es wäre trotzdem gut gelaufen, weil er ja vielseitig sei. — Das scheint also die internationale Liebesspielregel zu sein: Ab einem gewissen Reifegrad träumt man nicht mehr vom Sandwich to go, sondern von Vor-, Haupt- und Nachspeise. (Ela Angerer, 4.12.2022)