Covid-Kontrolltrupps in Chinas Hauptstadt am Mittwoch. Wird sich daran in den nächsten Wochen etwas ändern?

REUTERS / THOMAS PETER

Nach Protesten gegen die strikten Corona-Maßnahmen hat Chinas Vizepremierministerin Sun Chunlan von einem "neuen Stadium der Pandemie" gesprochen. Nach knapp drei Jahren werden die Corona-Regeln gelockert: Während Infizierte bisher in eigene Quarantänezentren gebracht wurden, können Menschen mit leichtem Verlauf eine Heimquarantäne antreten.

Weil China von Anfang an auf harte Maßnahmen gesetzt hat, während der Rest der Welt davon immer mehr abkam, steckt Peking nun in einem nahezu unauflöslichen Dilemma. Die Immunität gegen das Virus – oder gegen schwere Fälle – ist in China wegen ausbleibender Infektionswellen deutlich geringer. Dazu kommt, dass auch die Impfraten vergleichsweise gering sind: 86 Prozent der älteren Menschen haben laut Staatsmedium "China Daily" zwei Impfungen, nur 68 Prozent einen oder zwei Booster.

Problem Totimpfstoffe

Auch die verfügbaren Totimpfstoffe – hauptsächlich Sinopharm und Sinovac – haben insbesondere gegen Omikron nicht die gleiche Qualität wie ihre westlichen Gegenstücke. Eine Studie in Hongkong, wo die Menschen zwischen dem mRNA-Impfstoff von Pfizer-Biontech und Coronavac, einem chinesischen Impfstoff, wählen konnten, ergab, dass drei Impfungen mit einem der beiden Impfstoffe bei Personen über 60 Jahren zu über 90 Prozent wirksam waren, um schwere Erkrankungen und Todesfälle zu verhindern.

Allerdings waren zwei Dosen des mRNA-Impfstoffs deutlich wirksamer als zwei Impfungen mit Coronavac. Eine weitere Studie zeigte, dass die Wirkung des chinesischen Impfstoffs schneller nachlässt. In China werden nur Impfstoffe verimpft, die auch in der Volksrepublik entwickelt und produziert werden.

Was aber bedeutet es für das chinesische Gesundheitssystem, dass China von seiner Politik abrückt? Was ist epidemiologisch zu erwarten? Und wie sollte China diese mögliche Öffnung planen?

Modellrechnungen aus dem Mai

Hochrechnungen zu möglichen Folgen – aber eben nur Hochrechnungen – erschienen bereits im Mai. Chinesische Forschende um Hongjie Yu (Fudan-Universität in Schanghai), der ein internationaler Experte für Covid-19-Modellrechnungen ist, haben damals im angesehenen Fachblatt "Nature Medicine" mit den damaligen Zahlen einige Szenarien durchgerechnet.

In ihrem Basisszenario, das eine mit dem Booster geimpfte Bevölkerung und das Fehlen verstärkter nichtpharmazeutischer Interventionen (NPIs) – also Massentests und Mobilitätseinschränkungen – sowie antivirale Therapien berücksichtigt, könnte eine Omikron-Welle innerhalb eines Zeitraums von sechs Monaten bis zu 5,1 Millionen Hospitalisierte, 2,7 Millionen Patienten auf Intensivstationen (was einer 15-fachen Überlastung entspräche) und 1,55 Millionen Todesfälle verursachen.

Grafik aus dem Mai mit Hochrechnungen, wenn am 1. Mai in China geöffnet worden wäre. Gelten sie um sieben Monate verschoben immer noch?
Hongjie Yu et al., Nature Medicine 2022

Bis zu 2,1 Millionen Tote

Die Forschenden prognostizierten zudem, dass 74,7 Prozent aller Todesfälle aufgrund der Lücke im Impfschutz auf nichtgeimpfte Menschen im Alter von 60 Jahren und älter entfallen werden.

Eine neue Studie von Airfinity, einem in London ansässigen Unternehmen für Gesundheitsanalysen, bestätigt die chinesischen Schätzungen vom Mai. Eine Aufhebung der Covid-Sperre zum jetzigen Zeitpunkt könnte dem Ende November veröffentlichten Bericht zufolge innerhalb von 83 Tagen zwischen 167 Millionen und 279 Millionen Infektionsfälle und zwischen 1,3 Millionen und 2,1 Millionen Todesfälle verursachen.

Drei Strategien, am besten kombiniert

Die Modellrechung vom Mai untersuchte auch die Auswirkungen von drei Strategien zur Abschwächung der Covid-19-Belastung: erstens eine Förderung weiterer Impfungen (einschließlich Auffrischungsdosen und Impfungen von bisher ungeimpften Menschen im Alter von 60 Jahren und älter), zweitens antivirale Therapien und drittens weiterhin einige nicht-pharmazeutische Interventionen wie eben Lockdowns. Laut den Forschenden müssten weiter alle drei Strategien gemeinsam verfolgt werden, damit die Folgen nicht schlimmer werden als bei einer Grippewelle.

Internationale Experten wie Mark Woolhouse, Epidemiologe an der Universität Edinburgh, würden freilich zuerst einmal empfehlen, die besser wirkenden westliche Impfstoffe zu importieren und eine Impfkampagne zu starten. "Wenn dies nicht geschieht, ist es schwer vorstellbar, wie der Zyklus von Viruseinbrüchen und Abriegelungen für viele Monate und möglicherweise Jahre beendet werden soll", sagt Woodhouse. Fachleute verweisen auf Australien und Neuseeland, die ja auch lange an einer Null-Covid-Strategie festhielten, aber dank rigoroser Impfkampagnen öffnen konnten.

Neue Impfkampagne

Ähnlich sieht das sein britischer Kollege Paul Hunter von der University of East Anglia: "Wenn ich in China verantwortlich wäre, würde ich dringend eine neue Impfkampagne starten, vor allem für ältere Menschen, um allen einen besseren Schutz zu bieten, bevor ich die Beschränkungen lockere, wie es die meisten westlichen Länder getan haben." Das Problem sei in China die Impfmüdigkeit. (tasch, 7.12.2022)