Manuel Neuer will weiterhin im DFB-Team spielen.

Foto: IMAGO/Laci Perenyi

Al-Khor – Im Moment der Blamage winkte Deutschlands Trainer Hansi Flick verächtlich ab, seine Spieler wollten nur weg. Sie flohen nach dem erneuten WM-Desaster in die Kabine des "Beduinenzelts" von Al-Khor, so schnell es ging. Dieses Debakel war genauso schlimm wie der Russland-Albtraum von 2018 – die Mär von der deutschen "Turniermannschaft" ist ein für alle Mal dahin.

Der Traum vom fünften WM-Stern verglühte am Donnerstagabend um 23.53 Uhr Ortszeit am katarischen Wüstenhimmel. Nach der dritten deutschen Turnierblamage in Serie gehört der viermalige Weltmeister definitiv nicht mehr zur erweiterten Weltspitze. Und der Bundestrainer steht trotz eines 4:2 (1:0) im Gruppenfinale gegen Costa Rica vor den Trümmern seiner kurzen Amtszeit – weil die erhoffte spanische Hilfe ausblieb.

Verheerende 20 Minuten

"Das ist eine absolute Katastrophe", sagte der enttäuschte Thomas Müller im ARD-Interview. "Das ist für uns unglaublich bitter, denn unser Ergebnis hätte ja gereicht. Das ist ein Ohnmachtsgefühl." Alle nachträglichen Rechnereien seien "Schall und Rauch". Dann hielt er eine Rede an die Fans, die sehr deutlich nach Abschied klang. Kai Havertz stellte fest: "Wir müssen uns an die eigene Nase fassen."

Flick sprach mit versteinerter Miene über seine "riesengroße Enttäuschung" und darüber, wie "sauer" er zur Halbzeit war – das Aus habe sich bereits in den verheerenden "20 Minuten gegen Japan" entschieden: "Jetzt haben wir keine Chance mehr, es besser zu machen." Er wolle deutscher Teamtrainer bleiben, Geschäftsführer Oliver Bierhoff unterstützt ihn dabei.

Nach dem Führungstreffer durch Serge Gnabry (10.) und einem 30-minütigen Belagerungszustand vor dem costa-ricanischen Tor hatte noch alles blendend ausgesehen. Das Grauen kam auf leisen Füßen: Costa Rica zeigte sich erst ab und an gefährlicher – und schlug dann gnadenlos zu. Spanien geriet unterdessen beim 1:2 (1:0) gegen Japan nach Führung in Rückstand.

Kimmich gilt auf dem Platz als Sprachrohr.
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Strittige Trainerentscheidungen

In Al-Khor schoss Yeltsin Tejeda (58.) den Ausgleich für die Japaner, die deutsche Mannschaft war zu diesem Zeitpunkt schon völlig verunsichert. Jamal Musiala traf nur die Stange (61., 67.). Havertz (72., 85.) und Niclas Füllkrug (89.) konterten das zweite Gegentor durch Celso Borges (70.). Der Sieg war wertlos.

Wie das so ist, wenn ein Großprojekt zu Staub zerfällt: Vorab gefeierte oder zumindest nicht kritisierte Entscheidungen werden nun hart infrage gestellt. Taktik, Personal, Einstellung – Flick wird in den kommenden Tagen einiges zu erklären haben. Warum nahm er Mario Götze mit? Warum spielte Füllkrug nicht früher? Warum spielte Kimmich plötzlich hinten rechts?

So oder so: Wurzel allen Übels war das unnötige 1:2 gegen Japan nach deutscher Führung im ersten Spiel. Nebengeräusche wie der Streit um die One-Love-Binde waren wohl ablenkender als gedacht, das 1:1 gegen Spanien wirkte außerdem wie ein zu stark dosiertes Beruhigungsmittel.

Dabei hatte Flick alles versucht – sogar den Philipp-Lahm-Move von 2014. Der spätere Weltmeisterkapitän hatte sich zum Wohle der Mannschaft rechts in der Abwehr einsortiert, so tat es nun Joshua Kimmich. Leroy Sane kam zudem in die Mannschaft, Müller bekam im Sturm erneut den Vorzug vor Füllkrug, der eingewechselt wurde. Doch was half es? Nichts.

Ein entgeisterter Kai Havertz wurde aufgrund seines Doppelpacks als Spieler des Spiels ausgezeichnet.

Personelle Fragezeichen

Der deutsche Tross wird das Zulal Wellness Resort am Freitag räumen und gegen Mittag tief betrübt nach Hause fliegen – in ein Land, das sowieso nicht gerade von WM-Euphorie erfasst war und nun wohl fast völlig das Interesse verlieren wird.

Ein Umbruch ist nun mehr denn je notwendig. Diese Weltmeisterschaft könnte personelle Konsequenzen mit sich ziehen:

  • Trainer Flick hat angesichts seines Vertrags bis 2024 zwar versprochen, von sich aus nicht hinzuwerfen, die Bewertung obliegt allerdings Oliver Bierhoff und dem Deutschen Fußball-Bund (DFB).
  • Geschäftsführer Bierhoff selbst wird nach dem WM-Debakel nicht das Handtuch schmeißen. "Das schließe ich gerade aus", sagte er. "Ich weiß auch, dass der Mechanismus jetzt losgeht, dass die Diskussion stattfindet. Der muss man sich stellen. Ich werde meine Verantwortung tragen."
  • DFB-Präsident Bernd Neuendorf hat in einer ersten Reaktion eine Jobgarantie für Bundestrainer Hansi Flick und Geschäftsführer Oliver Bierhoff verweigert und eine eingehende Analyse eingefordert. Der Fahrplan sehe vor, "dass wir uns in der kommenden Woche zusammensetzen werden", sagte der Verbandschef vor dem Abflug der DFB-Auswahl aus Doha.
  • Thomas Müller hat womöglich sein letztes Länderspiel gemacht. "Was die Zukunft betrifft, werde ich mir die nötige Zeit geben und ein paar Tage nachdenken", sagte der 33-Jährige. Es folgte eine Abschiedsrede im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, an die Fans gewandt. Später relativierte er das Gesagte, er möchte sich mit seiner Familie beraten.
  • Manuel Neuer hat noch Lust. Der 36 Jahre alte DFB-Kapitän wollte von einem Rücktritt trotz der dritten Turnier-Enttäuschung in Serie nichts wissen. "Solange ich eingeladen werde und meine Leistung zeige, kann ich das ausschließen", sagte Neuer.
  • Bemerkenswert waren die Aussagen von Joshua Kimmich. Er befürchtet persönliche Folgen des WM-Debakels. "Ich habe ein bisschen Angst davor, in ein Loch zu fallen", sagte er. "Für mich ist heute der schwierigste Tag meiner Karriere." Die drei verpatzten Turniere in Serie seien für ihn "nicht so einfach zu verkraften, weil ich persönlich mit dem Misserfolg in Verbindung gebracht werde. Dafür will man nicht stehen." Kimmich hat mit dem FC Bayern alles gewonnen. Sein einziger Titel mit der A-Nationalmannschaft war der Confed Cup 2017 in Russland.

In weniger als zwei Jahren findet in Deutschland die Europameisterschaft statt. Dafür ist die DFB-Auswahl als Gastgeber fix qualifiziert. (sid, luza, 2.12.2022)