Wien – Seit 870 Tagen sitzt Markus Braun mittlerweile in Untersuchungshaft in Bayern. Nach seiner zweiten Festnahme am 22. Juli 2020 wurde der ehemalige Wirecard-Chef nicht mehr gegen Kaution freigelassen. Am Donnerstag ist es so weit, der Mammutstrafprozess gegen ihn und zwei weitere ehemalige Manager des Skandalkonzerns beginnt in München. Die Staatsanwaltschaft listet auf einer 474 Seiten langen Anklageschrift auf, was sie den drei vorwirft: Bilanzfälschung, Marktmanipulation, Untreue und gewerbsmäßigen Bandenbetrug.

Laut Anklage sollen die Manager den eigentlich unprofitablen Zahlungsdienstleister schöngerechnet haben, um Anleger und Kreditgeber zu täuschen. Mit windigen Konstruktionen schob Wirecard jahrelang erfundene Milliarden hin und her, und kaum jemand schöpfte Verdacht, bis im Juni vor zwei Jahren endgültig alles aufflog. Über die mittlerweile berühmten 1,9 Milliarden Euro stolperte der Konzern. Sie fehlten in der Bilanz und sind damals wie heute nicht auffindbar, wenig überraschend, da es das Geld nie gegeben hat.

Wirecard-Insolvenzverwalter Michael Jaffé hat mit dem Verkauf von Unternehmensteilen Erlöse von rund einer Milliarde Euro erzielt.
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Braun weist Schuld von sich

Markus Braun sieht sich nach wie vor als Opfer, er sei reingelegt worden, habe von all den kriminellen Vorgängen nichts gewusst. Als er vor zwei Jahren im Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages seinen bisher letzten öffentlichen Auftritt hatte, lehnte er Aussagen ab. Die Schuld gibt er unter anderem dem einstigen Finanzvorstand Jan Marsalek, der kurz vor dem Kollaps untertauchte. Medienberichten zufolge soll er in Russland unter Schutz des Geheimdienstes leben, bestätigt ist das allerdings nicht.

Braun jedenfalls drohen im Fall einer Verurteilung mehr als zehn Jahre Haft. Bis Dezember kommenden Jahres sind zunächst 100 Verhandlungstage angesetzt, mit einem Urteil ist dementsprechend nicht vor 2024 zu rechnen. Zum Auftakt werden die Verlesung der Anklage und eine erste Stellungnahme der Verteidigung erwartet.

In Minsk verlor sich Jan Marsaleks Spur, seither wird er international gesucht.
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Die Person Markus Braun

Über Braun sind nur grobe Züge seiner Vita bekannt, er legte auch in seiner erfolgreichen Phase hohen Wert auf Diskretion und mied gesellschaftliche Events – was das Interesse an seiner Person sogar erhöhte. Er studierte Wirtschaftsinformatik in Wien und promovierte dort auch parallel zu seiner ersten beruflichen Station beim Unternehmensberater KPMG. Im Jahr 2002 wurde der gebürtige Wiener Vorstandschef von Wirecard. Weil er sich schon in den Jahren davor auf digitale Bezahlverfahren spezialisiert hatte, galt er als idealer Chef.

Braun baute über die Jahre auch ein gutes politisches Netzwerk auf. Er war unter anderem Teil des vom Ex-Kanzler Sebastian Kurz installierten Thinktanks Think Austria und spendete großzügig an die ÖVP und die Neos.

Mehr als zehn Jahre Haft drohen dem einstigen Wunderwuzzi der Technologiebranche.
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Steiler Aufstieg, noch steilerer Fall

Der Aufstieg der Finanztechnologiefirma aus dem Münchner Vorort Aschheim verlief fast so aufsehenerregend wie ihr Fall. Jahrelang hatte sich Wirecard als Gewinner des Internethandels präsentiert und boomende Geschäfte mit der Abwicklung von Onlinezahlungen ausgewiesen. Die von Braun verkündete Wachstumsstory begeisterte Kleinanleger wie Großinvestoren.

2018 löste Wirecard die Commerzbank im Leitindex Dax ab. Zeitweise war das Unternehmen an der Börse mehr wert als die Deutsche Bank und erwog sogar deren Übernahme. Zwar wurde an Finanzmärkten und in Medien wiederholt der Vorwurf von Unregelmäßigkeiten laut. Doch Wirtschaftsprüfer, Finanzaufsicht und Strafverfolger sahen lange keinen Grund einzuschreiten.

Schaden und Ansprüche

Zu Spitzenzeiten stand Wirecard als Dax-Konzern bei einem Börsenwert von 24 Milliarden Euro, von diesem Kapital ist nichts geblieben. Zur genauen Schadenshöhe flattern viele Zahlen herum. Banken, Sozialkassen und Gläubiger haben beim Insolvenzverwalter Michael Jaffé Ansprüche über 3,3 Milliarden Euro angemeldet, überdies fordern rund 22.000 Aktionäre weitere sieben Milliarden Euro Schadenersatz. Für Letztere wird es allerdings nichts. Kürzlich hat das Landgericht München entschieden, dass Aktionäre nicht als Gläubiger gelten und somit keine Forderungen geltend machen können. Der Fall wird vermutlich beim deutschen Bundesgerichtshof landen. Unterm Strich ist die Wahrscheinlichkeit, dass Kleinanleger ihr Geld wiedersehen, ziemlich klein.

In dem Gerichtssaal im Gefängnis München-Stadelheim, dem größten und modernsten Saal der Münchner Justiz, sind vorläufig 100 Verhandlungstermine bis Ende kommenden Jahres angesetzt.
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Kettenreaktion

Der Zusammenbruch des einstigen technologischen Hoffnungsträgers im Juni 2020 löste ein wirtschaftliches und ein politisches Beben aus. Der Aktienkurs stürzte ab, der Konzern rutschte als erstes Dax-Unternehmen in die Insolvenz, Braun trat zurück und wurde festgenommen. Bei der Finanzaufsichtsbehörde Bafin und der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY wurden führende Köpfe ausgetauscht. Der Bund reformierte die Finanzaufsicht, und auch im Dax brach ein neues Zeitalter an. Von 30 wurde auf 40 Unternehmen aufgestockt, und Indexmitglieder müssen nun sowohl testierte Quartals- als auch Geschäftsberichte veröffentlichen. (Andreas Danzer, 8.12.2022)