Foto: Getty Images/iStockphoto/Francesco Corticchia

Pro:

Wer kennt nicht diese seltsamen Wesen, die mit Licht von der Stirn strahlend, in langen bunten Socken um sechs Uhr Früh durch die Dunkelheit traben? Fast jedem, der ihnen begegnet, führen sie vor: ohne Fleiß vor Sonnenaufgang kein Preis beim nächsten Marathon. Diese Übermotivierten haben längst auch die digitale Welt übernommen. Insta-Stories und Beiträge mit Strava- und Runtastic-Kilometern ohne Ende (natürlich maximal fünf Minuten pro Kilometer!) und Selfies im Dry-Fit-Shirt.

Ja, nach einer harten Arbeitswoche können die Laufposter nerven. Aber wer gerne mal wieder seine Motivation finden und die Schuhe schnüren will, kann sich immerhin berieseln und inspirieren lassen. Viele Laufgruppen haben sich in der Pandemie aufgelöst. Warum also nicht das Posten der Laufstrecke zum Finden von Gleichgesinnten nutzen? Statt genervt die Augen zu verdrehen, könnte man die Läufer auch herausfordern. Vielleicht verlinkt man sich ja bald in gemeinsamen Postings. (Melanie Raidl)

Kontra:

Er hieß Rupert und war mein erster Fußballtrainer. Keine andere Weisheit hat mein Leben mehr geprägt als sein Spruch: "Leute, ihr trainiert nicht für mich, auch nicht für die anderen, sondern für euch selbst." Diese Parole gilt auch und vor allem für das Laufen. Selbst wenn man in der Gruppe unterwegs ist, am Ende geht es doch um das eigene Wohlbefinden, um einen gesunden Egoismus. Me, myself and my Herzfrequenz!

In den sozialen Netzwerken wollen alle mitreden. Täglich werden neue Rekorde aufgestellt, und alle schreiben mir indirekt vor, wie oft, wo, welche Distanz, welche Geschwindigkeit ich laufen soll. Nein, muss! Der digitale Laufgruppenzwang nimmt keine Rücksicht auf Schwächen. Er nutzt sie, um sich an der Schmach der Schmächtigen zu laben. Geteiltes Leid ist volles Leid. Raus aus der Komfortzone, schreit die Insta-Story. Rein in die Laufschuhe, verlangt der Facebook-Feed. Nicht mit mir. Ich laufe für mich. Ungeteilt, im Namen von Rupert.

(RONDO, Rainer Schüller, 15.1.2023)