Seit Wochen demonstrieren vor allem junge Frauen und Männer im ganzen Land.
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Es ist kurz vor Mitternacht, als das Handy von Navid Ahmad (Name aus Sicherheitsgründen von der Redaktion geändert) läutet: "Eine Familie im Iran sucht ärztlichen Rat", urgiert ein Bekannter. Ahmad, ein iranischer Arzt in Österreich, nimmt sofort Kontakt auf. Am anderen Ende der Leitung findet er eine Frau in großer Sorge um ihre Tochter vor. Die 16-jährige Maryam (Name geändert) klage über Schlaflosigkeit und Suizidgedanken. Doch sie hat Angst, ihre Tochter in ein Krankenhaus zu bringen: Maryam sei jüngst bei einer Demo festgenommen und soeben erst freigelassen worden.

Mit dem Krankenwagen ins Gefängnis

Wie er dem STANDARD erzählt, ahnt Ahmad sogleich, wovor sich Maryams Mutter so fürchtet: Seit Beginn der landesweiten Proteste gegen das Regime vor mehr als siebzig Tagen mehren sich Berichte über Spitalsdirektionen, die unter der Kontrolle des Sicherheitsapparats stehen. Demnach würden Verletzte, die verdächtigt werden, die Proteste zu unterstützen, gemeldet oder gleich verhaftet. Das passt zu von der New York Times verifizierten Berichten, wonach Demonstrierende mit Krankenwagen direkt auf Polizeistationen gebracht werden statt ins Krankenhaus. Ahmad plagt außerdem eine dunkle Ahnung: Die 16-Jährige könnte vergewaltigt worden sein. Jüngst verwies der US-Sondergesandte für den Iran, Robert Malley, auf einen CNN-Bericht, wonach inhaftierte Frauen und Männer häufig vergewaltigt würden.

Verwundete, die sich nicht in Spitäler trauen, müssen Projektile zu Hause entfernen.
Foto: Flora Mory

Überzeugt, dass Maryam suizidgefährdet ist, kontaktiert Ahmad eine Psychiaterin im Iran und bittet sie, das Mädchen zu untersuchen. Nach einem Erstgespräch bestätigt sie Ahmads Befürchtung: Maryam wurde von einem Wächter vergewaltigt. Sie will dafür sorgen, dass Maryam in der Psychiatrie aufgenommen wird – ohne dort die Hintergründe bekanntzugeben.

Verzweifelte Hilferufe

Dass verzweifelte Hilferufe auf Ahmads Handy landen, ist weder ein Einzel- noch ein Zufall. Der 50-Jährige ist Teil einer Gruppe aktivistischer Ärzte in Wien, die, wie andere iranische Kollegen weltweit, den Protesten nicht stillschweigend zusehen wollen. Sie setzten im Oktober auf sozialen Medien Postings ab, in denen sie Verletzten telefonische Hilfe anboten. Seither kann Ahmad sein Handy kaum zur Seite legen.

"Auf diese Revolution habe ich lange gewartet", sagt der Arzt, der selbst in seiner Jugend bei Protesten von den Revolutionsgarden verhaftet und geschlagen wurde. Dass auch diesmal die Reaktion des Mullah-Regimes blutigst ausfallen wird, war rasch klar. Insbesondere unter den unterdrückten Sunniten in den Protesthochburgen (Kurdengebiete und Sistan-Belutschistan, wo sich auch Prediger gegen das Regime stellen) stiegen die Opferzahlen rasant. Indes werden von dort kriegsähnliche Belagerungen durch Sicherheitskräfte – Stichwort Basij-Miliz – gemeldet. Bei einem Besuch im Kurdengebiet stellte Präsident Ebrahim Raisi nun die Protestierenden erneut als Randalierer im Dienst der USA dar. Bisher wurden laut NGOs 462 Menschen getötet, sechs zum Tode verurteilt, 18.206 verhaftet und unzählige verletzt. Etliche dürften Krankenhäuser scheuen.

Der Arzt Ahmad hilft Betroffenen von Regime-Gewalt per Telefon, sich selbst zu helfen.
Foto: Flora Mory

Notbehandlungen zu Hause

Bei Ahmad melden sich meist Angehörige junger Aktivisten, die Schusswunden erlitten haben – oft durch Plastikprojektile, die unter die Haut dringen, wenn sie aus nächster Nähe abgefeuert werden. Sie wollen wissen, wie sie die Kugeln – manchmal sind es dutzende – entfernen können. Das ist keinesfalls ungefährlich: Die Wunden können sich entzünden – etwa wenn Pinzetten nicht steril sind. Brenzlig wird es, wenn Kugeln in der Nähe lebenswichtiger Organe feststecken – wie bei einem 16-Jährigen in Karadsch, dessen Darmwand bei dem Versuch, eine Kugel zu entfernen, durchbohrt wurde. Ahmad leistete am Telefon Erste Hilfe und vermittelte einen Arzt, der ihn um zwei Uhr nachts in seiner Praxis notoperierte, und das, obwohl Ärzten, die Demonstrierenden helfen, harte Strafen drohen.

Dass die Opfer allesamt jung sind, liegt daran, dass hauptsächlich Leute zwischen 14 und 25 Jahren auf die Straßen gehen, darunter zahlreiche Frauen. Sie werden "Achtzigergeneration" genannt – geboren in den 1380ern des persischen Kalenders, der nun 1401 schreibt. Die Demos haben neben den Unis auch Mädchenschulen erfasst, wie die 15-jährige Parisa dem STANDARD erzählt: "Wenn wir uns am Schulhof über die Zustände im Iran äußern, drückt die Schulleiterin ein Auge zu."

Sie hat gelernt, Internetsperren zu umgehen: "Ich möchte so leben wie die meisten Mädchen in der freien Welt, ohne Vorschriften, wie ich mich zu kleiden oder zu benehmen habe." Parisa ist mutig, jedoch nicht ohne Angst: "Das Schicksal von Ghasal Ranjkesh könnte auch meines sein", sagt sie unter Tränen. Ranjkesh ist eine der vielen Aktivistinnen, die von einer Schrotflinte schwer am Auge verletzt wurden. Bekannt machte sie ihr Instagram-Post: "Das letzte Bild, das ich gesehen habe, war das Lächeln des Mannes, der auf mich geschossen hat." (Flora Mory, N. N.*, 4.12.2022)