Wirecard avancierte in kurzer Zeit zum Börsenstar, wollte ein technologisches Zugpferd in Europa werden und endete im spektakulärsten Kriminalfall der deutschen Wirtschaftsgeschichte. Praktisch alle Kontrollmechanismen haben versagt. Wie konnte ein für so erfolgreich gehaltenes Unternehmen so viel Schaden anrichten?

Frage: Wer ist oder war Wirecard?

Antwort: Der Zahlungsabwickler und Finanzdienstleister steuerte sein Geschäft von Aschheim bei München aus. Anfangs wickelte Wirecard Onlinezahlungen vor allem für Porno- und Glücksspielanbieter ab. Nach vielen Übernahmen ging das rasch wachsende Unternehmen an die Börse und war 2018 mit einem Börsenwert von 21,2 Milliarden Euro mehr wert als die Deutsche Bank.

Frage: Wer hat Wirecard zu Fall gebracht?

Antwort: Das ist noch unklar. Großen Anteil hatte jedenfalls Dan McCrum, ein Journalist der "Financial Times" ("FT"). Ab 2015 wies er in seiner Serie "House of Wirecards" auf Unregelmäßigkeiten in den Bilanzen hin. McCrum bekam nicht nur von Wirecard heftigen Gegenwind. Die deutsche Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin) zeigte ihn sogar wegen des Verdachts der Aktienmanipulation an. Schlussendlich zerbrach Wirecard im Juni 2020, weil in der Bilanz 1,9 Milliarden Euro fehlten.

Protagonist im Wirecard-Prozess ist Markus Braun. Ihm drohen zehn Jahre Haft, er streitet aber jegliche Schuld ab.
Foto: APA/AFP/POOL/FABRIZIO BENSCH

Frage: Wo sind die 1,9 Milliarden Euro?

Antwort: Gegeben hat es dieses Geld, das aus dem Drittpartnergeschäft stammen soll, höchstwahrscheinlich nie. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass hinter den 1,9 Milliarden nur erfundene Luftbuchungen stehen, um das eigentliche Verlustgeschäft des Konzerns zu kaschieren. Mit roten Zahlen wäre es überdies viel schwieriger gewesen, neue Finanzierungen von Banken und anderen aufzustellen. Der ehemalige Konzernchef Markus Braun streitet das ab, ihm zufolge wurde das Geld woanders verbucht. Laut Wirecard lagen die 1,9 Milliarden auf Treuhandkonten auf den Philippinen, aufgetaucht ist davon aber noch kein Cent.

Frage: Wer sind Markus Braun und Jan Marsalek, was machen sie jetzt?

Antwort: Der aus Wien stammende Markus Braun (53) war von 2002 bis Juni 2020 Vorstandsvorsitzender von Wirecard und sowohl in Österreich als auch in Deutschland politisch gut vernetzt. Zuvor hatte er für die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG gearbeitet. Seit mehr als zwei Jahren sitzt er mittlerweile in U-Haft. Der 42-jährige Jan Marsalek (ebenfalls aus Wien) war Finanzvorstand bei Wirecard und ist untergetaucht. Er führte ein Doppelleben. Einerseits trat er als Manager eines IT-Giganten auf, andererseits dürfte er gute Kontakte zu Geheimdiensten auf der ganzen Welt gepflegt haben.

Frage: Wo ist Jan Marsalek?

Antwort: Er flog am 19. Juni 2020, einen Tag nach seiner Freistellung von Wirecard, von Österreich nach Minsk. Diversen Medienberichten zufolge soll er sich in Russland aufhalten und unter dem Schutz des Geheimdienstes stehen. Bestätigung gibt es dafür keine.

Jan Marsalek wird mit internationalem Haftbefehl gesucht und in Russland vermutet.
Foto: EPA/SASCHA STEINBACH

Frage: Wie wird die Sache aufgearbeitet?

Antwort: Zuständig für die Ermittlungen war die Staatsanwaltschaft München. Ihre Arbeit ist Basis für die 474 Seiten umfassende Anklage. In Berlin hat sich ein U-Ausschuss des Bundestags mit dem Fall befasst. Braun war als Zeuge geladen, sagte aber nichts.

Frage: Wie lautet die Anklage gegen Braun? Wer steht noch vor Gericht?

Antwort: Braun wird im Gerichtssaal auf seinen früheren Bilanzchef Stephan von Erffa und den ehemaligen Statthalter von Wirecard in Dubai, Oliver Bellenhaus, treffen. Allen wird vorgeworfen, Bilanzen gefälscht und kreditgebende Banken um 3,1 Milliarden Euro geschädigt zu haben. Der Hauptvorwurf ist gewerbsmäßiger Bandenbetrug. Braun drohen zehn Jahre Haft.

Frage: Welche Aussagen sind zu erwarten?

Antwort: Oliver Bellenhaus hat umfassend ausgesagt und ist Kronzeuge. Braun sieht sich nach Angaben seiner Verteidigung bis heute als Opfer einer Bande rund um den flüchtigen Jan Marsalek. Zum Auftakt am Donnerstag werden die Verlesung der Anklage und eine erste Stellungnahme der Verteidigung erwartet.

Frage: Wie lange wird der Prozess dauern?

Antwort: Bis 2024 sind zunächst 100 Verhandlungstage angesetzt, am 8. Dezember startet der Prozess.

In dem Gerichtssaal im Gefängnis München-Stadelheim, dem größten und modernsten Saal der Münchner Justiz, sind vorläufig 100 Verhandlungstermine bis Ende kommenden Jahres angesetzt.
Foto: APA/AFP/CHRISTOF STACHE

Frage: Wie groß ist der Schaden?

Antwort: Banken, Sozialkassen und Gläubiger haben Ansprüche über 3,3 Mrd. Euro angemeldet, überdies fordern rund 22.000 Aktionäre weitere sieben Milliarden Euro Schadenersatz. Jedoch hat das Landgericht München kürzlich entschieden, dass Aktionäre nicht als Gläubiger gelten und somit keine Forderungen geltend machen können. Unterm Strich ist die Wahrscheinlichkeit, dass Kleinanleger ihr Geld wiedersehen, ziemlich klein.

Frage: Gibt es bereits andere gerichtliche Entscheidungen?

Antwort: Im Frühjahr hat das Landgericht München die Wirecard-Bilanzen der Jahre 2017 und 2018 für nichtig erklärt, wodurch auch die Dividendenbeschlüsse für die beiden Jahre hinfällig sind. Sollte das Urteil rechtskräftig werden, könnte Insolvenzverwalter Jaffé damit die von Wirecard für die beiden Jahre gezahlten Dividenden in zweistelliger Millionenhöhe von den Aktionären zurückfordern, ebenso von Wirecard gezahlte Steuern.

Frage: Wie ist die deutsche Politik in die Sache verwickelt?

Antwort: Als Wirecard zusammenbrach, war der jetzige Kanzler Olaf Scholz (SPD) deutscher Finanzminister und stand der Bafin vor. Diese wurde für zu lasche Kontrolle kritisiert. Scholz wies die Vorwürfe zurück, leitete aber eine Reform der Bafin ein und stockte das Personal auf. Der damalige Bafin-Chef Felix Hufeld musste wegen des Fiaskos gehen.

Frage: Was haben die Wirtschaftsprüfer gemacht?

Antwort: Das Wirtschaftsprüfungsunternehmen EY steht schwer in der Kritik, weil es von 2009 bis 2018 die Bilanzen anstandslos testierte. Unterlagen zeigen, dass EY viele Probleme zu lang tolerierte. Mittlerweile gibt es zahlreiche Zivilklagen gegen das Unternehmen, außerdem laufen berufsrechtliche Verfahren der Wirtschaftsprüferaufsicht Apas.

Wirecard war das erste Dax-Unternehmen, das in die Insolvenz gerutscht ist. Daraufhin wurden die Regeln im deutschen Leitindex geändert.
Foto: REUTERS/Andreas Gebert

Frage: Wie hat man an der Börse reagiert?

Antwort: Der deutsche Leitindex Dax wurde reformiert. Von 30 wurde auf 40 Unternehmen aufgestockt, und Indexmitglieder müssen nun sowohl testierte Quartals- als auch Geschäftsberichte veröffentlichen.

Frage: Hätte der ganze Schwindel nicht viel früher auffallen müssen?

Antwort: Immer wieder bemerkten Betrugsabteilungen von Banken Unregelmäßigkeiten, doch schlussendlich verließen sich alle blind auf das Testat. In Checklisten aus dem Lehrbuch für Bilanzbetrug traf bei Wirecard meist alles zu. Etwa die undurchsichtigen Konstrukte und das Auslagern von Geschäftsbereichen. Es gab die Berichte der "FT", und berühmte Shortseller warfen Wirecard in der Öffentlichkeit regelmäßig Betrug und Geldwäsche vor. (Andreas Danzer, Birgit Baumann, 4.12.2022)