"Gloomhaven" ist kein gewöhnliches Brettspiel, es ist fast schon ein eigenes Hobby. Hier schlüpft jeder der bis zu vier Mitspieler in die Rolle eines finsteren Gesellen, um gemeinsam mit den Freunden Abenteuer auf dem Spielbrett zu erleben: Monster werden bekämpft, dunkle Höhlen erforscht, mit zwielichtigen Auftraggebern verhandelt. Jeder der Charaktere verfolgt dabei eine eigene versteckte Agenda aus persönlichen Zielen, Gegenstände werden im Lauf des Spiels eingesammelt und neue Fähigkeiten erworben.

Das erinnert stark an Pen&Paper-Rollenspiele wie "Dungeons&Dragons" oder "Das Schwarze Auge", wie sie zuletzt etwa in der jüngsten Staffel der Netflixserie "Stranger Things" behandelt wurden. Die Prämisse hier: Die wahren Abenteuer sind im Kopf. Die Dialoge und Kämpfe stellt man sich vor, anstatt sie von einem Game-Developer als hochauflösende Animation auf einem Screen vorgekaut zu bekommen.

Große Box, teurer Spaß

Weil aber natürlich nicht alles im Kopf passieren kann, gibt es entsprechende Hilfsmittel. Meist sind dies Regelbücher, Zettel mit den wichtigsten Eigenschaften der eigenen Spielfigur ("Charakterbogen") und diverse Würfel – im Fall von "Gloomhaven" gingen die Entwickler ein wenig weiter: In der rund zehn Kilogramm schweren Box befinden sich neben den Charakterbögen auch diverse Spielfiguren und Spielpläne, welche für die einzelnen Missionen genutzt werden.

Ein Video von der Kickstarter-Page zeigt, worum es in "Gloomhaven" geht.
Rahdo

Der Umfang allein ließ "Gloomhaven" in den vergangenen Jahren zu einem Kultspiel werden, die Fachseite Boardgamegeek listet es in einem Ranking als das beste Brettspiel aller Zeiten. Das kommt jedoch zu einem gewissen Preis: knapp 190 Euro kostet das einstige Kickstarterprojekt nun im Handel. "Frosthaven", das Nachfolgespiel, soll zwar noch umfangreicher sein, dafür preislich aber auch auf happige 400 Euro kommen.

Die Welt des Tabletop-Simulators

Gut, wenn man Freunde hat, die sich das Spiel kaufen – im Endeffekt muss ja bloß eine Person im Freundeskreis das Geld auf den Tisch legen, damit vier Leute Spaß haben. Oder man ist fair und teilt sich die Kosten. Jedenfalls war für mich lange Zeit auch eine Sache klar, die ich vor rund einem Jahr auch in einem anderen Beitrag dieses Mediums kundgetan habe: Sich bei einem Freund zuhause zu treffen, das Spielbrett aufzubauen, die Figuren über das selbige zu schieben, dabei wild zu diskutieren – das ist ein Gefühl, das noch immer durch kein Computerspiel ersetzt werden kann.

Das soll nicht heißen, dass ich digitale Brettspiele per se ablehne. Ganz im Gegenteil. Vergangenes Jahr widmeten wir uns an dieser Stelle einem ausführlichen Test des "Tabletop Simulator", der es ermöglicht, diverse Brettspiele gemeinsam online an einem virtuellen Spieltisch zu spielen. Das hatte vor allem während der Lockdowns (erinnert sich daran noch jemand?) seinen Reiz, als man sich gar nicht mehr treffen konnte. Es klappt aber auch jetzt, wenn man etwa im kalten Winterwetter nicht vor die Tür gehen möchte oder erkältet ist und die Freunde nicht anstecken möchte. Viele Spiele haben wir hier zumindest ausprobiert, mit anderen etliche Abende verbracht.

"Gloomhaven", so dachte ich mir, war vor dieser Entwicklung immer gefeit. Denn die Masse an Material würde man niemals in ebenbürtiger Weise digital abbilden können, der Charme der eigenen Charakterbögen in privaten Briefumschlägen ist durch nichts zu ersetzen, ebenso das Diskutieren mit den Mitstreitern bei Chips und Dosenbier.

Gratis ist geil

Doch nun muss ich diese Meinung revidieren. Alles begann damit, dass Kollege Pichler im November vergangenen Jahres sein Review zur Computerspielumsetzung von "Gloomhaven" veröffentlichte und das Spiel lobte. Freilich juckte es uns damals schon in den Fingern, doch wir blieben stolz: 190 Euro sind 190 Euro, und für dieses Geld wollten wir auch unseren Spaß haben.

Doch der finale Schlag kam vor ein paar Wochen, als Epic das Spiel – wie so oft – gratis im eigenen Store verschleuderte. Sollten wir dem ganzen zumindest eine Chance geben? Immerhin schaut man einem geschenkten Gaul nicht ins Maul, und Geiz ist leider geil. Die Falle schnappte zu.

Gemütlichkeit siegt

Seitdem sind wir dem Spiel verfallen. Wenn ich nicht gerade aus beruflichen Gründen ein anderes Game spielen muss oder an meinem Langzeitprojekt zocke – ich pflege ein eheähnliches Verhältnis zu Jane Shepard aus "Mass Effect" –, dann sitzen wir abends gemeinsam vor dem digitalen Spielplan und kämpfen uns jeden Abend durch einen neuen Dungeon.

Das liegt nicht daran, dass das Spiel gratis ist. Sondern daran, dass die Umsetzung so gut gelungen ist, dass Grafik, Sound und Gameplay zumindest keine Trübung des Spielspaßes mit sich bringen. Und daran, dass man bei derartigen Spielen auch gemütlich plaudern und ein Bier trinken kann, während Shooter zum Beispiel viel zu viel Aufmerksamkeit – und vor allem den Einsatz beider Hände – erfordern.

Vor allem spricht aber eines für das digitale "Gloomhaven". Es ist nicht mühsam. Denn ein Detail habe ich Ihnen bisher galant verschwiegen: Tatsächlich haben wir uns nur zwei bis drei Mal in persona getroffen, um das Brettspiel gemeinsam zu spielen – zu mühsam war die Terminfindung angesichts Vollzeitjobs und Familienleben, und wenn wir uns doch mal trafen, dann verbrachten wir den halben Abend mit dem Studieren des Regelwerks und dem Aufbaue des Spielplans.

All dies fällt beim Computerspiel weg: Der Spielplan steht von selbst, die Gegner bewegen sich eigenständig. Kurzum: Man kann sich beim digitalen Spielen mehr auf den Inhalt selbst konzentrieren, anstatt sich mit Regeln und Aufbau herumzuschlagen.

"Das Schwarze Auge", anyone?

Bedeutet das nun, dass ich nie wieder ein physisches Brettspiel spielen werde? Nein, natürlich nicht. Der Anblick der bunten Spielsteine bei einer abendlichen Runde "Azul" mit meiner Frau (die echte, nicht Jane) hat nach wie vor einen eigenen Reiz, Spieleabende mit Freunden sind soziale Events, die man nicht missen möchte – und vor allem sind nicht nicht alle Brett- und Rollenspiele digital so sauber umgesetzt wie "Gloomhaven".

A propos: Das Schwarze Auge. Kann zu diesem legendären deutschen Pen&Paper-Rollenspiel bitte jemand ein vernünftiges Multiplayergame machen? Dass man so etwas atmosphärisch schön auf den Punkt bringen kann, wurde mit "Blackguards" schon 2014 gezeigt, den Reiz einer offenen Welt zeigte schon die "Nordland-Trilogie" in den 1990er-Jahren.

Zuletzt wurde es um den Kontinent Aventurien jedoch still. Ein Remake des 1992 erschienen "Schicksalsklinge" entwickelte sich vor neun Jahren aufgrund zahhlreicher technischer Fehler zur Lachnumer. Der letzte Wurf, "Book of Heroes" im Jahr 2020, wurde auf Steam mit Negativbewertungen geradezu überhäuft – zu viele Bugs, zu lieblose Missionen, und das Regelwerk zu weit weg von der Pen&Paper-Vorlage.

Das ist schade, denn "Book of Heroes" ist eigentlich ein Multiplayerspiel und hätte somit Potenzial gehabt, wenn die Entwickler genug Liebe hinein gesteckt hätten. Aber vielleicht nimmt sich ja mal jemand anders dieser Aufgabe an, und dann kann ich endlich wieder mit Freunden durch die Straßen Thorwals Straßen ziehen. Von meinem Schreibtisch aus, ohne mit dem Bus fahren zu müssen. "Gloomhaven" hat ja bereits gezeigt, dass das geht. Jetzt sind die Deutschen an der Reihe. (Stefan Mey, 3.12.2022)