Jeden Abend stranden hier nach 22 Uhr, wenn alle schon drinnen sind, Menschen, die aus ganz Österreich hergeschickt werden.

Foto: Elisa Tomaselli

Vor den Toren des Erstaufnahmezentrums in Traiskirchen haben sich rund 30 Burschen und Männer zwischen 14 und 35 Jahren in einer Reihe vor einem kleinen Klapptisch versammelt. Ein paar davon tratschen miteinander, schnorren sich Tschicks vom Nachbarn oder passen einander, zum Teil nur in Schlapfen, einen Fußball zu. Es hat etwa null Grad Celsius. Hinter dem Tisch füllen der Tischler Delshad Bazari und seine Frau Rouken Becher mit heißem Schwarztee und geben großzügig Zucker dazu.

"Das ist das Highlight des Tages", sagt der 14-jährige Ciya* aus Nordsyrien. Sonst habe er nicht wirklich was zu tun, außer Deutsch zu lernen und zu warten. Darauf, dass er rauskommt und seine Eltern zu ihm nachkommen können.

In die Menge hat sich der Traiskirchner Bürgermeister Andreas Babler (SPÖ) gemischt. Um ihn sammelt sich eine Traube, drei Männer starren in sein Handy. "Schau, die Maria, unsere neue Traiskirchnerin!" Auf dem Foto ist ein Baby zu sehen. Der Vater, der neben Babler steht, strahlt. Später wird der Ägypter nochmal herkommen und drei, vier, fünf Fotos seiner Tochter zeigen.

Helfer im Dauereinsatz

Szenen wie diese spielen sich seit Wochen vor dem Erstaufnahmezentrum für Asylwerber in der niederösterreichischen Gemeinde ab. Freiwillige Helferinnen und Helfer – vom Integrationsstadtrat bis hin zum ehemaligen Flüchtling wie Bazari – versuchen, den Bewohnern ein paar Minuten Auszeit zu geben. Viele Asylwerber, die sich hier am Abend die Zeit totschlagen, sind seit Tagen, andere seit Monaten in dem Erstaufnahmezentrum untergebracht. Mit 1800 Menschen ist das Quartier heillos überfüllt – für 400 Menschen wäre die ehemalige Kadettenschule eigentlich ausgerichtet. Drei Viertel der Bewohner sollten gar nicht mehr hier, sondern in der Grundversorgung der Länder sein.

Aber das ist nicht der einzige Grund, warum die Freiwilligen jeden Abend im Schichtbetrieb – teils bis um zwei in der Früh – hier stehen: Traiskirchen ist auch zum Abstellgleis für gestrandete Asylwerber geworden.

Chaos bei Unterbringung

Um zu verstehen, wie das passieren konnte, braucht es den Blick zurück in den Herbst: hohe Asylantragszahlen, überfüllte Bundesquartiere und Länder, die nicht bereit sind, Asylwerber aufzunehmen. Die drohende Obdachlosigkeit habe Flüchtlingszelte – mittlerweile sind sie wieder abgebaut – notwendig gemacht, argumentierte damals Innenminister Gerhard Karner (ÖVP).

"Doch die Obdachlosigkeit wird bei uns produziert", sagt Babler im Gespräch mit dem STANDARD. 700 obdachlose Menschen seien in den vergangenen Wochen in der Stadt Traiskirchen untergebracht worden. "Ein System, wie wir es noch nie hatten und das endlich abgestellt gehört." Was passiert hier jede Nacht vor den Toren Traiskirchens? Und wer trägt dafür die Verantwortung?

Im Erstaufnahmezentrum des Bundes leben derzeit 1.800 Menschen – für 400 Personen wäre es eigentlich gedacht.
Foto: der STANDARD

Nachtruhe um 22 Uhr

Um fünf vor zehn leert sich der Gehsteig, alle Männer verschwinden fluchtartig Richtung Eingang. Von 22 Uhr bis sechs Uhr herrscht Nachtruhe. So sind die Regeln. Barazi selbst kann sich an die drei Tage, die er damals im Erstaufnahmezentrum verbracht hat, nicht mehr erinnern, sagt er. Das war im Jahr 2014. Acht Jahre später arbeitet er nun als Tischler und steht jeden Abend hier. "Ich wäre so froh gewesen, wenn ich jemanden gehabt hätte, der mit mir einen Tee getrunken und mir ein paar Informationen gegeben hätte", sagt Barazi.

Während er weitererzählt, nähert sich eine Gestalt. "Schau", ruft Bazari, "das ist einer! Ich sehe das." Bazari rast zum Eingang. Vor ihm steht ein junger, schlaksiger Mann. Kurdisch? Arabisch? Welche Sprache er spricht, will Bazari wissen. "Farsi", antwortet der Mann leise. Aus seinem Rucksack nimmt er einen DIN-A4-Zettel heraus, auf dem "Traiskirchen" steht. Die Polizei an der Grenze zu Deutschland habe ihm das gegeben. "Das passiert jeden Abend", sagt Stadtrat Norbert Ciperle, der seine Übersetzungs-App öffnet. Ciperle und Jutta Lang, eine Freiwillige, sprechen langsam ins Handy. "Wir haben einen Schlafplatz für dich. Dort kriegst du eine warme Suppe. Dann schauen wir weiter." Die Farsi-Übersetzung folgt. Der Mann atmet auf. In der Nacht werden drei weitere Männer eintreffen.

Schweigendes Ministerium

Dabei, kritisieren die Helfer, wären eigentlich viele der Ankommenden bereits einem anderen Quartier in Österreich zugeteilt. Die Polizei schicke diese aber weiter. Gerade Wels steche bei dieser Praxis hervor, heißt es: Auf Dokumenten, die dem STANDARD vorliegen, wurde unter die Quartierzuteilung Wels einfach "Traiskirchen" hingeschrieben.

Aber kommt die Anweisung tatsächlich von der Polizei? Das Innenministerium lässt eine diesbezügliche STANDARD-Anfrage unbeantwortet. Es meldet sich der Sprecher der Bundesbetreuungseinrichtungen (BBU), Thomas Fussenegger, der auf die Bemühungen bei den Überstellungen in die Länder verweist. Die Weggeschickten aus Wels könnten jedenfalls nicht in Traiskirchen unterkommen, sagt er. Die Kapazitäten seien erschöpft. Das dürften auch die Verantwortlichen wissen.

Freiwillige wie Delshad Bazari (Zweiter von links), Rouken Al Suleiman (Zweite von rechts) und Jutta Lang stehen am Abend vor den Toren des Erstaufnahmezentrums.

Geheimes Notquartier

Wo die Menschen stattdessen in der Stadt schlafen können, soll geheim bleiben. Erst vergangene Woche marschierten Rechtsextreme vor den Toren Traiskirchens auf – zehn von ihnen wurden angezeigt. Das will man sich ersparen. Was gesagt werden kann: Der Ort ist warm, es gibt Bierbänke, Tee und Matratzen auf dem Boden. Auf einer liegt der junge Marokkaner Said*, der schnell nach Italien zum Arbeiten aufbrechen will. Asyl habe er nicht beantragt, sagt er. Ob das stimmt, lässt sich nicht feststellen.

Welche Motive die Männer nach Österreich gebracht haben, spielt für die Helfer hier keine Rolle. "Wir lassen niemanden auf der Straße", sagen Ciperle und Bazari, die auch um 24 Uhr noch zum Schwarztee greifen. Was die Situation für den Stadtrat zeigt? "Niemand schleppt so gut wie das Innenministerium." (Elisa Tomaselli, 5.12.2022)

* Name von der Redaktion geändert