Am Freitag protestierten israelische Aktivisten und Aktivistinnen gegen ein rechte Politik in Hebron.

Foto: Reuters/MUSSA ISSA QAWASMA

Die Mittagssonne brennt auf Ilans Nacken, es gibt keinen Schatten hier. Dort, wo Schatten wäre, darf Ilan nicht hin: Polizisten haben jenen Parkplatz in Hebron, auf dem der 51-Jährige mit rund dreihundert Gleichgesinnten seit einer Stunde steht, mit Tretgittern abgeriegelt. Es sind viele Polizisten, die ihre Augen keine Sekunde lang von den Abgeriegelten lassen, und viele Soldaten, die sie dabei unterstützen. "Provokationen verhindern", das sei ihr Auftrag, erklärt ein Kommandant. Als Provokation gilt offenbar auch, eine öffentliche Toilette aufzusuchen oder eine Flasche Wasser zu kaufen. Niemand der Anwesenden darf den Parkplatz verlassen, selbst für dringende körperliche Bedürfnisse.

Jene dreihundert Israelis, die Freitagvormittag aus Tel Aviv, Jerusalem und anderen Städten nach Hebron angereist sind, waren dem Aufruf von rund dreißig israelischen Menschenrechts-NGOs gefolgt. Es sei sein erster Besuch in Hebron, sagt Ilan – dabei liegt die größte Stadt im Westjordanland nur 70 Kilometer entfernt von Tel Aviv.

Auch Avner aus der nordisraelischen Stadt Pardes Hanna ist zum ersten Mal freiwillig in Hebron. Unfreiwillig war er schon vor vierzig Jahren hier, als junger Soldat im Pflichtarmeedienst. Seither habe er kein einziges Mal einen Fuß ins Westjordanland gesetzt. Nicht aus Desinteresse, sondern aus Überzeugung. "Das ist kein Teil von Israel, wir Israelis haben hier nichts zu suchen", meint der 58-Jährige.

Rechtsextremes Wahlbündnis erstarkt

Dass er und viele weitere Israelis trotz dieser Überzeugung heute in Hebron sind, hat mit den Ereignissen der vergangenen Wochen zu tun. Am 1. November wurde das rechtsextreme Wahlbündnis unter Itamar Ben Gvir zur drittstärksten Partei gewählt. Ben Gvir soll nun Israels neuer "Minister für Nationale Sicherheit" werden. "Das Wahlergebnis hat mich schockiert", sagt Ilan. "Wenn wir jetzt nicht aufstehen, dann ist es vielleicht bald zu spät."

Wenige Hundert Meter von dem Parkplatz, auf dem Ilan schwitzt, lebt der künftige Minister Ben Gvir mit seiner Familie in einer illegalen jüdischen Siedlung. Er ist der Star unter den Hebroner Siedlern. Hätte ganz Israel so gewählt wie die jüdische Bevölkerung von Hebron, dann hätte Ben Gvirs Wahlbündnis die absolute Parlamentsmehrheit.

Zerschlagene Fensterscheiben

Es sind nur rund 800 Juden und Jüdinnen, die in Hebron unter 35.000 Palästinensern und Palästinenserinnen im Gebiet rund um das Abrahamsgrab leben, doch ihre Präsenz ist deutlich spürbar. Vor zwei Wochen zogen sie durch die Straßen Hebrons, schlugen Schaufensterscheiben ein, zerstörten die Ware der palästinensischen Händler, attackierten Bewohner und Bewohnerinnen. "Es war entsetzlich", sagt Issa Amro, ein palästinensischer Menschenrechtsaktivist. "Und die (israelischen, Anm.) Soldaten haben sie nicht gehindert, im Gegenteil. Sie haben sie sogar beschützt."

Amro hat sich zu den Aktivisten auf dem Parkplatz gesellt, um eine Rede zu halten. Während er spricht, steht dicht neben ihm ein Polizist mit einer Kamera, deren Objektiv auf Amros Gesicht gerichtet ist. "Ich weiß, nach dieser Rede werden sie mich wieder festnehmen", sagt Amro. Seine Befürchtung sollte sich nach dem Ende der Kundgebung bewahrheiten. Dabei war er erst zwei Tage zuvor aus einem israelischen Militärgefängnis entlassen worden. Der Anlass für Amros zweitägige Inhaftierung war, dass er den gewaltsamen Übergriff eines Soldaten gegen israelische Friedensaktivisten eine Woche zuvor filmisch dokumentiert hatte. Das Video wurde viral, machte Schlagzeilen, die Armee leitete ein Disziplinarverfahren gegen den Soldaten ein. Doch auch gegen Amro wird nun ermittelt: Wegen Behinderung von Polizei und Armee und Störung der öffentlichen Ordnung. "Ich war Zeuge eines Übergriffs, aber anstatt mich einzuvernehmen, haben sie mich selbst zum Beschuldigten gemacht", sagt Amro.

"Breaking the Silence"

Eigentlich war Ilan aus Tel Aviv nach Hebron gekommen, um sich ein Bild der Besatzung zu machen, die er so entschieden ablehnt. Wer weiß, vielleicht würden die Umstände vor Ort etwas an seiner Position ändern? Die Anti-Besatzungs-Initiative "Breaking the Silence", die regelmäßig Touren durch Hebron veranstaltet, wollte die Aktivisten durch Hebron führen. Die Polizei vor Ort verhinderte das – "aus Sicherheitsgründen". Amro ist fassungslos. "Die Tausenden, die vor zwei Wochen in Hebrons Straßen gewütet haben, durften sich frei bewegen", sagt Amro, "und wir gefährden hier die Sicherheit?"

Eine Antwort erhält er durch die Lautsprecher, über die sich ein Grüppchen Rechtsradikaler am Rande des Parkplatzes Gehör verschafft. "Ihr seid alle gekauft", brüllen sie, "Ihr Terrorunterstützer, Ben Gvir wird mit euch aufräumen!"

Die Rechtsextremen sprechen damit unwillkürlich jene Angst an, die Ilan bewegt hat, heute hierher zu kommen. Der Tel Aviver befürchtet, dass die Gewalt der Rechtsradikalen, die sich jetzt gegen die Palästinenser in Hebron und in anderen Teilen der Westbank richtet, verstärkt auch in Israel um sich greifen wird. "Deswegen bin ich hier", sagt Ilan. "Wenn Tel Aviv nicht nach Hebron kommt, dann kommt Hebron irgendwann nach Tel Aviv." (Maria Sterkl aus Hebron, 4.12.2022)