Einen erwachsenen Charakter kann man sich in "Need for Speed: Unbound" nicht basteln – einen Teenager mit grünen Haaren dafür sehr einfach.

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Am zweiten Dezember ließ die Games-Branche wieder die Muskeln spielen. Gleich drei spannende Titel erblickten an diesem Tag das Licht der Welt. "Marvels Midnight Suns", "The Callisto Protocol" und "Need for Speed: Unbound" – und alle drei spucken dem Games-erfahrenen Familienvater mit Vollzeitjob ins Gesicht.

"Need for Speed: Unbound"

Fangen wir beim erst kürzlich angekündigten Rennspiel "Need for Speed: Unbound" an, das sich mit seinem jugendlichen Gangster-Setting und dem bunten Comicstil – von EA liebevoll "Living Graffiti" genannt – der 40+ Community nicht wirklich anbiedert. Aber gut, wenn man "Fast & Furious" zumindest bis Teil acht zu seinen "guilty pleasures" zählt, dann sieht man darüber hinweg und wirft sich mit allem, was man hat, in den neuesten Teil der ebenfalls in die Jahre gekommenen Serie.

Und Überraschung: Das Spiel ist eigentlich richtig gut. Crashes, die an gute "Burnout"-Zeiten erinnern, und wilde Verfolgungsjagden mit gelungenem Geschwindigkeitsgefühl ziehen auch den Kenner von Teil 1 aus dem Jahre 1994 schnell ins Geschehen. Das merkt man spätestens dann, wenn man sich mit der Nase in Richtung Bildschirm bewegt und versucht, mit den Augen über den nächsten Hügel zu blicken. Klar, es gibt auch nervige Aspekte, etwa die viel zu häufig auftauchenden Polizisten, die auch nach Rennen das eigene Auto gerne gegen die Wand drücken, und auch die Story wurde offenbar an einem Nachmittag geschrieben.

Dennoch: Man kann tunen und unterhaltsame Rennen fahren – was will man mehr? Alles paletti also, oder? Mitnichten. Nach einem längeren Prolog wirft einen das Spiel von einem getunten Superauto in ein Basismodell, bei dem man für einen besseren Auspuff übertrieben gesagt vier Rennen gewinnen muss. Das ist gar nicht so einfach, da die Ausstattung des Erstwagens eigentlich nicht mit den Tuning-Kisten der anderen Fahrer mithalten kann. So beginnt der schon aus so vielen anderen Rennspielen bekannte Grind (sprecht das Wort im Kopf gern auch auf Deutsch aus). Das reicht von den immer länger werdenden Strecken der Open World, die man bis zum eigentlichen Rennen zurücklegen muss, bis hin zu viel zu niedrig angesetzten Preisgeldern.

Ja, es war "Need for Speed" vor gefühlt 100 Jahren, das für ungeduldige Naturen tatsächlich mit Echtgeld kaufbare Autos einführte, um genau diesem Grind zu entgehen. Damals war ich jung, hatte keine Kinder und mein Job war es, Videospiele zu testen – den Kauf von Autos im Spiel für Echtgeld stellte ich lauthals an den Pranger. Heute versuche ich, weit mehr Dinge in einen 24 Stunden dauernden Tag zu quetschen, da fehlt mir sowohl beruflich als auch privat die Muse, mir möglichst mühsam ein cooles Auto verdienen zu müssen. Klar, die Motivation ist es mitunter, sich sein Gefährt zu tunen, aber spätestens wenn es in Arbeit ausartet, lege ich den Controller frustriert zur Seite. Echtgeld will ich übrigens dennoch nicht für Ingame-Autos zahlen.

Spätestens, wenn vier Polizeiautos gegen meinen 1960er-Jahre-Shelby krachen, rächen sich die für mich unfinanzierbaren Updates.
Foto: Electronic Arts

"Callisto Protocol" / "Marvel Midnight Suns"

Keine Angst, ganz so ausführlich wie beim neuen Racer wird mein Rant gegen die anderen beiden Spiele nicht. "Callisto Protocol" ist einfach ein schlechteres "Dead Space". Eine Kunst, ist das spielerische Vorbild doch schon fast 15 Jahre alt und bekommt demnächst auch ein Remake. Wie kann das sein? Wie kann man spieltechnisch und inhaltlich gegen einen ähnlichen Titel aus dem Jahr 2008 abstinken? Gut, da gibt es noch andere Beispiele, aber "Callisto Protocol" wurde wirklich sehnlichst erwartet, sah in den ersten Videos ausgesprochen gut aus und hätte sich mit dem Setting sicher ein besseres Spiel verdient. Gut, der Papa mit zu wenig Zeit dankt es, muss er sich das Spiel doch erst gar nicht besorgen – obwohl es wirklich richtig, richtig gut aussieht!

"Marvels Midnight Suns" hingegen hat schon nach den ersten Stunden mein Herz erobert. Für mein Alter und meinen tagtäglichen Stresslevel ist das rundenbasierte Kampfsystem ein Wohlgenuss, das Zusammenspiel der bekannten und unbekannten Marvel-Helden erinnert an einen durchschnittlichen MCU-Film. Mit dem Hintergedanken, mir einen Test für den STANDARD anzutun, blickte ich in diverse Artikel, um mehr über die Spielzeit zu erfahren. Der Schock blieb nicht aus: 65 bis 70 Stunden sollte man für einen Durchlauf einrechnen. Gut, für "Elden Ring" habe ich mir die Zeit tatsächlich aus allen anderen Lebensbereichen herausgeschnitten, aber für ein okay-ishes Spiel, das zudem optisch vielerorts an gute alte Playstation-3-Zeiten erinnert? Da muss ich tatsächlich noch einmal drüber nachdenken.

Die "Midnight Suns" wollen mehr als 60 Stunden meiner Lebenszeit und sehen mich dafür recht blutleer an.
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Keine Zeit dafür

Es hat schon einen Grund, warum so viele Menschen aufhören, Videospiele zu konsumieren. Früher wurde man einfach "zu alt" dafür, weil es sowohl gesellschaftlich noch mehr geächtet war und man mit Kindern tatsächlich kaum noch Zeit dafür findet, sofern man nicht Zeitmanagement studiert hat. Heute flüchten sich viele in den Indie-Bereich oder spielen auf dem Handy, weil die Blockbuster-Industrie keine Rücksicht auf den älter werdenden Gamer nimmt. Spielzeit ist noch immer ein wertvolles Gut, um die teurer werdenden Videospiele zu rechtfertigen. Die Geschichte von "God of War Ragnarök" hätte man gut in fünf bis zehn Stunden weniger erzählen können und sogar "The Last of Us II" hätte in weniger Spielstunden nichts an seiner Brillanz verloren.

Da kann man sich fast freuen, wenn "Saints Row" einfach schlecht ist, "Darktide" zum Start nicht funktioniert und sämtliche Multiplayer-Shooter ohnehin in den Händen der 14-jährigen Dauerzocker liegen. So schränkt sich das Angebot fast automatisch ein. Dennoch bleibt die Frage: welche Spiele werden noch für Leute gemacht, die schon vor 20 Jahren virtuelle Autos getunt haben, damit sie endlich einen starken Flitzer steuern dürfen oder Grusel-Schocker gespielt haben, die es an Innovation nicht missen haben lassen?

Am Ende des Tages sind vielleicht wirklich nicht die Spiele das Problem, sondern ich selbst. Eine Gleichung, die für Beziehungen ja auch immer wieder zutrifft. Vielleicht sollte ich einfach das Joypad an den Nagel hängen und auch primär auf dem Smartphone spielen. "Marvel Snap" ist beispielsweise derzeit mein ständiger Pausenfüller. Fünf Minuten Spielzeit pro Runde, und ein neues Kartendeck habe ich innerhalb von maximal zehn Minuten erstellt. Perfekt eigentlich, für den alternden Videospieler – auch wenn er das heute noch nicht wahrhaben will. (Alexander Amon, 5.12.2022)