Eine Barriere zwischen Afrika und Europa, die in Marokko steht: Migranten wollen nach Ceuta und Melilla kommen.

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An Marokko hängen die Hoffnungen der arabischen, aber auch vieler afrikanischer Fans: Als einziges arabisches und einziges afrikanisches Team, das noch übrig ist, sammelt es in Katar alle hinter sich. Mit Spanien treffen die Marokkaner am Dienstag in Doha auf ihren Nachbarn jenseits der Meerenge von Gibraltar, der immer schon arabisches und afrikanisches Tor nach Europa war.

Aber das gilt eben auch in die andere Richtung: Dass Staaten bei Fußballweltmeisterschaften gegeneinander spielen, in deren Vergangenheit einer Kolonisator und einer Kolonisierter war, wäre ja an sich nichts Besonderes. Aber selten kiefeln Länder tagespolitisch noch heute so an der europäischen Kolonialgeschichte wie Spanien und Marokko.

Die gute Nachricht ist, dass sich seit 2018, als die Spanier bei der WM in Russland die Marokkaner mit 2:0 besiegten, die Beziehungen um 180 Grad zum Besseren gewendet haben. Rabat vs. Madrid, ein Spiel unter neuen besten Freunden. Das wäre es vor nur einem Jahr nicht gewesen. Erst im April dieses Jahres war der spanische Premier Pedro Sanchez bei König Mohammed VI. in Marokko, und damals wurde ein neues Zeitalter der Beziehungen ausgerufen.

Madrids radikaler Politikwechsel

Zuvor hatte Madrid seine jahrzehntelange Westsahara-Politik radikal geändert. Ein marokkanischer Autonomieplan für den von Marokko kontrollierten und annektierten Teil der Westsahara ist für Spanien nunmehr die "ernsthafteste, realistische und glaubwürdigste Basis" für eine Lösung des seit 47 Jahren dauernden Konflikts, der immer wieder auch mit Waffen ausgetragen wird.

Da der Plan eine Autonomie unter marokkanischer Souveränität vorsieht, widerspricht er der Rechtsmeinung der Uno, der zuvor auch Spanien folgte. Demnach sollte ein Referendum über die Zugehörigkeit der Westsahara entscheiden. Aber seit US-Präsident Donald Trump im Dezember 2020 – also bereits nach seiner Abwahl – die Souveränität Marokkos über das Gebiet anerkannte, wird das "Pro-Marokko-Momentum", wie es Marokko selbst nennt, stärker.

De facto akzeptieren immer mehr Staaten die Annexion – wie eben der ehemalige Kolonialherr Spanien. Aber auch Deutschland, dessen Beziehungen zu Marokko zuvor äußerst angespannt waren, lobte diesen Sommer Marokko für seine "Bemühungen".

Waffenstillstand 1991

In Marokkos Geschichte spielte zwar die ehemalige Kolonialmacht Frankreich eine größere Rolle, aber das Gebiet der Westsahara, südlich von Marokko, stand unter spanischer Herrschaft. Als die Spanier es 1975 freigaben, rückten marokkanische Truppen ein. Beansprucht wurde es jedoch auch von der Frente Polisario, die 1976 die Arabische Demokratische Republik Sahara (DARS) ausrief. Die Polisario kontrolliert den Osten der Westsahara und wird von Algerien unterstützt. So viel zur arabischen Einheit.

Der 1975 ausgebrochene Krieg wurde 1991 durch einen Uno-vermittelten Waffenstillstand beendet. Er sieht das Referendum vor. Aber dass es jemals eine Einigung darüber geben könnte, wer dabei mitstimmen dürfte – nur die angestammte Bevölkerung oder auch aus Marokko zugewanderte –, ist illusorisch. International scheinen das mehr und mehr Staaten so zu sehen – darunter auch solche, die zunächst die DARS anerkannten.

Die spanische Wende im März 2022 unter einem linken Regierungschef – die europäischen Sozialisten waren historisch auf der Polisario-Seite – kam jedoch überraschend. Vorangegangen war eine ausgewachsene Krise, bei der auch die jeweiligen Botschafter abberufen wurden. Die spanischen Behörden hatten den Polisario-Führer Brahim Ghali zur Behandlung seiner Covid-Infektion in ein spanisches Krankenhaus aufgenommen.

Migration als Druckmittel

Marokko reagierte, indem es die Achillesferse Spaniens kitzelte: die Migration aus Afrika etwa auf die Kanaren, aber vor allem in die spanischen Städte-Enklaven Ceuta und Melilla, wo es die Zäune – eine europäische Grenze auf afrikanischem Boden – von tausenden Menschen überrennen ließ. Die Szenen haben sich eingebrannt.

Spanien stellte daraufhin seine Westsahara-Politik auf den Kopf – um den teuren Preis seiner Beziehungen zum Gaslieferanten Algerien. Der kündigte einen 20 Jahre alten Freundschaftsvertrag mit Spanien auf – und ließ seinerseits mehr Migranten durch.

Ein Trump'scher Deal

Bleibt noch die Frage, warum Trump 2020 die marokkanische Souveränität über die Westsahara anerkannte. Auch das war ja eine Revision der jahrzehntelangen Politik der USA, bei der aber auch sein Nachfolger Joe Biden blieb. Es handelte sich um einen typisch Trump'schen Deal: Der US-Präsident gab Marokko, was es wollte. Und Marokko gab Trump, was er wollte: Rabat normalisierte die Beziehungen zu Israel und unterschrieb nach den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrain die "Abraham-Abkommen".

Wobei das Geschäft Marokko leichtgefallen sein muss: Die Beziehungen zu Israel waren auch vorher gut, wenngleich nicht so offen. Für die marokkanische Politik – und auch für den Großteil der Bevölkerung – ist die Westsahara das nationale Anliegen Nummer eins. Im August rief der König, der sonst eher nicht durch Rigorosität auffällt – Mohammed VI. ist treuer Besucher Pariser Nachtclubs –, alle Partner Marokkos auf, ihre Position zur Westsahara-Frage zu klären: Durch dieses "Prisma" sehe Marokko seine internationalen Beziehungen. Die Spanier sind jetzt bei den Guten. (Gudrun Harrer, 6.12.2022)