Erst als weißer Sozialverlierer in den Hinterhöfen von Washington, D.C., herumgeschubst, dann selbst zur Punk-Legende avanciert: der linksliberale US-Hardcore-Sänger Henry Rollins.

AP / Chris Pizzello

Nicht immer haben die Nutznießer von Privilegien Gelegenheit, die Früchte ihrer Vorrechte tatsächlich zu genießen. Das gewachsene Bewusstsein für Ausgrenzung und Ungleichheit verleitet zahllose Progressive zu stark verallgemeinernden Feststellungen. Prominent genanntes Beispiel in Jörg Schellers neuem Buch (Un)Check You Privilege: die US-Soziologin und Aktivistin Robin DiAngelo, die in ihrer Schrift Wir müssen über Rassismus sprechen (so der Titel der deutschen Ausgabe) ausnahmslos allen Weißen einen privilegierten Status zugesprochen hat. Dabei ist es gleich, was ein solcher Weißer denkt, fühlt, sagt – oder anderen womöglich Gutes tut.

DiAngelo bringt ihren methodischen Ansatz wie folgt auf den Punkt: "Ich generalisiere." Unumwunden macht sie die Ideologie des Individualismus für die weiße Vorherrschaft ("white supremacy") verantwortlich. Noch immer wären Weiße von dem Bewusstsein erfüllt, einzigartig zu sein. People of Colour stecken demgemäß – nicht nur in Amerika – in einem strukturellen Schlamassel fest. Und so wirft DiAngelo ausgerechnet das Konzept des Individualismus auf die Müllhalde. Dessen Idee meint, dass Menschen, die unter annähernd freien und gleichen Bedingungen leben, zu Gestaltern ihres persönlichen Schicksals werden (können).

Nicht so allerdings, wenn man einzelne Weiße, also Individuen, mit der Struktur Whiteness identifiziert. Schellers Einspruch nennt sich im Untertitel: "Wie die Debatte um Privilegien Gerechtigkeit verhindert". In der begrüßenswerten Absicht, historisches Unrecht zu benennen und seine Ausläufer zu kritisieren, würden insbesondere akademische Wortführer in die "Pauschalisierungsfalle" (Scheller) tappen. Das hehre Anliegen des Essayisten: Einzelstimmen dürfen nicht allein Echos eines strukturellen Zusammenhangs bilden.

Falsche Vorrechte

Jörg Scheller lehrt zurzeit Kunstgeschichte an der Zürcher Kunsthochschule. Er ist als gewitzter Polemiker bekannt, gerade auch gegenüber Vertretern der Wokeness. In der löblichen Absicht, Verkündern von Verallgemeinerungen die marmorglatte Stirn zu bieten, verläuft er sich diesmal ein wenig zwischen Pappkameraden. Man wird aus seinen Relativierungen, die jede für sich absolut plausibel daherkommen, nicht unbedingt schlau. Denn natürlich ist es sinnlos, "Privilegien" wahren zu wollen: so es sich bei diesen um unverdiente, von einer Obrigkeit aus eigener Machtvollkommenheit eingeräumte Vorrechte handelt.

Die Schwachstelle mancher, die antirassistisch zu handeln meinen, liegt in der Zirkelstruktur, die ihrer Argumentation zugrunde liegt. Identifizieren sich Menschen, die als "weiß" klassifiziert werden, selbst nicht als "weiß", leugnen sie ihre Privilegien. Akzeptieren sie die Zuschreibung, sind sie privilegiert.

Akzeptieren sie die Zuschreibung nicht, sind sie erst recht privilegiert. Es geht zu wie beim Kongress der Weißwäscher: Je stärker sich jemand gegen die Klassifizierung-Rassifizierung wehrt, desto weißer wird er.

Akuter Utopie-Mangel

Schellers bedenkenswerter Schluss: Begriffe wie "Privileg", "weiß" und "schwarz" würden unter einem akuten Utopie-Mangel leiden. Sie verfestigen Stereotypen, anstatt sie zu dekonstruieren. Ausschlaggebend sei immer der Privilegien-Check im Alltag. Und so feiert, gleichsam durch die Hintertür, das Individuum – verstanden als leistungswilliges Mitglied einer Gemeinschaft von potenziell Freien und Gleichen – eine Art Comeback.

Auch Weißen würde gerade in den USA häufig genug in die (Armen-)Suppe gespuckt. Scheller nennt Exponenten der amerikanischen Hardcore- und Punk-Szene der 1980er-/1990er-Jahre, Burschen wie Henry Rollins oder Ian MacKaye (Minor Threat), die als Vorstadtweiße von Vertretern der jeweiligen Mehrheitsnachbarschaft, ob puerto-ricanisch oder Schwarz, windelweich geprügelt wurden.

Rollins‘ bekannter Ausweg: Selbst ist der mit Muskeln bepackte Mann. Heute ist Rollins, der Schreihals, ein verdienter Exponent der Linksliberalen in den USA: "Don’t think about it – do it!" Über ihre angeblichen Vorrechte hätte man die unterprivilegierten Hinterhofkinder wohl erst aufklären müssen: "Don’t call me white!" (Ronald Pohl, 7.12.2022)