Im Gastblog präsentieren die Politikwissenschafterinnen Sieglinde Rosenberger und Anna Lazareva die Ergebnisse einer Studie über Selbst- und Fremdwahrnehmung von geflüchteten Ukrainerinnen in Wien.

Hannah Arendt beschreibt im Essay "Wir Flüchtlinge" (1943) den Bruch mit der Vertrautheit des Alltags. Flucht ist der Zusammenbruch der privaten Welt, des Zuhauses, der Berufstätigkeit und der damit einhergehenden Nützlichkeit. Arendt weiß auch um die emotionale Abwehr, als "Flüchtling" charakterisiert zu werden oder sich gar als solcher zu verstehen. Denn "Flüchtling" bedeute, mittellos in einem anderen Land anzukommen und auf Hilfe angewiesen zu sein.

In einem Interview sagt eine Ukrainerin, die in Dnipro eine Osteopathie-Praxis betrieb und nun in Wien auf staatliche und private Unterstützung angewiesen ist: "Ich wollte auf Urlaub und nicht als Vertriebene nach Österreich kommen." Der Satz macht den Bruch mit ihrer bisherigen Lebenswelt, den damit verbundenen Chancen und Wünschen deutlich, ebenso wie die abrupte Fluchtentscheidung – Zeit, das Weggehen vorzubereiten, gab es nicht.

Forschung bezüglich Ukrainerinnen

In Österreich leben derzeit etwa 72.000 registrierte Personen aus der Ukraine. Der Großteil, circa 80 Prozent, sind Frauen und Kinder. Sie gelten als Vertriebene und besitzen kollektiv temporären Schutz. Die aufenthaltsrechtlichen Grundlagen sind die Temporäre Schutz-Richtlinie der EU und die Vertriebenen-Verordnung der österreichischen Bundesregierung.

Wie beschreiben sich Ukrainerinnen in Wien? Und wie grenzen sie sich von anderen Gruppen ab?
Foto: APA/HANS PUNZ

Vor diesen demografisch wie asylrechtlich besonderen Hintergründen befragte ein Forschungsprojekt an der Universität Wien neu ankommende Ukrainerinnen (33 Interviewte) und Mitarbeitende in NGOs zu Unterstützungsstrukturen sowie über Selbst- und Fremdwahrnehmungen. Die Interviews wurden inhaltsanalytisch ausgewertet, und zwei markante Ergebnisse werden im Folgenden skizziert: der starke Wunsch, in der Stadt zu leben, und sich nicht als Flüchtling zu identifizieren.

In der Stadt, nicht auf dem Land

Die Befragung zeigt, dass die Geflüchteten fast unisono in der Stadt, konkret in Wien, leben wollen. Für diese starke städtische Affinität werden folgende Gründe genannt: Fortsetzung der in der Ukraine vertrauten Lebensbedingungen; bessere infrastrukturelle, bildungsbezogene, medizinische und berufliche Möglichkeiten; mehr Chancen für Bildung, Freizeit und Sport insbesondere für Kinder. Weiters zeigen sich manche Befragte besorgt wegen fehlender Hilfsangebote wie Nahrungsmittelausgabestellen und wegen der eingeschränkten Mobilität auf dem Land.

Die Vorbehalte gegenüber einem Leben auf dem Land resultieren sowohl aus der eigenen städtischen Identität als auch aus Bildern, Vorstellungen und Erfahrungen, die aus ukrainischen Dörfern mitgebracht und auf Österreich übertragen werden. Das Wissen um den strukturschwachen ländlichen Raum in der Ukraine überlagert die Präferenz für das Leben in der Stadt in Österreich.

Keine Identifikation als Flüchtling

In Wien Angekommene entwerfen Selbstbilder, die weit vom "Flüchtling" entfernt sind; sie betonen eine große geographische wie kulturelle Nähe zu Österreich und äußern teilweise ablehnende Einstellungen gegenüber Geflüchteten aus anderen Herkunftsstaaten.

Selbstwahrnehmung

Befragte Ukrainerinnen grenzen sich von als arm und mittellos bezeichneten Geflüchteten aus anderen Ländern ab. Sie betonen, dass sie keine armen Menschen seien, dass sie interessante berufliche und private Lebenspläne gehabt hätten oder dass sie vor dem Krieg geplant gehabt hätten, nach Österreich auf Urlaub zu kommen.

Die Ukraine gehöre zur europäischen Familie – ein Narrativfragment, das sich in der Ukraine mit der Annäherung an die EU bereits seit 2014 etabliert hatte. Dementsprechend wird der russische Angriffskrieg als ein europäischer Krieg bezeichnet, also als ein Krieg, der die europäischen Werte an den Außengrenzen der EU angreift, welche die Ukraine verteidige, und der somit über die innereuropäische Stabilität und Sicherheit entscheide. Ein weiterer Erzählstrang betrifft die Hervorhebung von sozialen und kulturellen Ähnlichkeiten sowie eine geteilte Geschichte.

Fremdwahrnehmung

Diese "Ingroup"-Sichtweisen werden von "Outgroup"-Konstruktionen ergänzt. In den Interviews werden distanzierend – teils ernst gemeint, teils augenzwinkernd – insbesondere Geflüchtete aus muslimischen Herkunftsländern als "anders" dargestellt. Befragte äußern, dass sie nicht so wären wie "die", nämlich arm. Die Abgrenzung erfolgt über die Betonung von kulturellen Unterschieden mit Verweisen auf die gute materielle und soziale Positionierung in der Ukraine sowie auf historische und politische Nähe zwischen Österreich und der Ukraine. Wien wird als "Kulturstadt" und die Hilfsbereitschaft in Österreich als sehr positiv wahrgenommen.

Sowohl die Aussagen zur Selbst- als auch zur Fremdwahrnehmung sind in einer sozialen Positionierung verortet, die jenseits der Kategorie "Flüchtling" angesiedelt ist. Die rechtlichen und sozialen Regelungen betreffend den Status der Menschen aus der Ukraine in Österreich, die Verwendung des offiziellen Begriffs "Vertriebene" anstelle von "Flüchtlinge" sowie das öffentliche und mediale Framing als potenzielle Arbeitskräfte bestärken dieses Selbstbild als Nichtflüchtling.

Herausforderungen an die Integrationspolitik

Die Integrationspolitik ist gefordert und kann dabei kaum auf alte Konzepte zurückgreifen. Die meisten Vertriebenen sind nicht gekommen, um zu bleiben, sondern um vorübergehend Schutz zu finden. Dies erfordert es, den politischen Schwerpunkt auf Unterstützung, Aufnahme und Versorgung zu legen und weniger auf klassische Integrationsmaßnahmen. Gleichzeitig ist die temporäre Schutz-Richtlinie eine äußerst günstige Rahmenbedingung für den unmittelbaren Arbeitsmarktzugang. Mit Blick auf den hohen Bildungsstand der Geflohenen besteht nun die Herausforderung, deren Dequalifizierung auf dem Arbeitsmarkt zu vermeiden. Mit anderen Worten: Die integrationspolitische Anstrengung müsste nun darin liegen, die erforderliche Sprachkompetenz rasch zu vermitteln und Abschlüsse zu nostrifizieren, damit die Menschen ihre in der Ukraine ausgeübten Berufe und Aktivitäten in Österreich fortsetzen können.

Eine große Herausforderung, die Frauen in die Berufsarbeit zu bringen, ist die Bereitstellung öffentlicher Infrastruktur zur Vereinbarkeit von Beruf und Betreuungspflichten sowohl für Kinder als auch für Ältere. In dieser Hinsicht sind weniger Integrationsmaßnahmen erforderlich, sondern Leistungen und Services, auf die alle Menschen mit Betreuungsaufgaben, unabhängig ob mit und ohne Migrationserfahrung, angewiesen sind.

Dennoch darf nicht übersehen werden, dass es sich bei den Vertriebenen aus der Ukraine um Flucht- und nicht um Erwerbsmigration handelt – auch wenn der öffentliche Diskurs angesichts des Arbeitskräftemangels anderes nahelegen mag. Schutz und Unterstützung im Alltagsleben, Wohnraum und Zugang zu Bildungseinrichtungen für die Kinder zählen zur ersten Priorität. (Sieglinde Rosenberger, Anna Lazareva, 9.12.2022)