Innenminister Karner (ÖVP) nannte als Grund für seine ablehnende Haltung die "mehr als 100.000 Asylanträge" in Österreich in diesem Jahr.

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Brüssel/Wien – Die EU-Innenminister entscheiden am Donnerstag über die Erweiterung des Schengenraums um Bulgarien, Rumänien und Kroatien. Die EU-Kommission hat bereits eine Empfehlung dafür ausgesprochen. Es sei höchste Zeit, die Länder willkommen zu heißen, so EU-Innenkommissarin Ylva Johansson Mitte November. Österreich sieht das anders und wird laut Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) bei seinem Nein für Bulgarien und Rumänien bleiben.

Die Aufnahme Kroatiens in den Schengenraum gilt als sicher. Über den Beitritt Kroatiens wird am Donnerstag (Beginn 10.00 Uhr) getrennt abgestimmt, anschließend wird über die Erweiterung um Rumänien und Bulgarien entschieden. Mit der Aufnahme der Länder in den Schengenraum würden die systematischen Ausweiskontrollen bei der Ein- oder Ausreise fallen.

Grenzkontrollen durch Frontex

Die Veto-Drohung bezeichnete Karner am Dienstag im Ö1-"Morgenjournal" als "Notruf", auf den die EU-Kommission bisher nicht reagiert habe. Als Grund für die ablehnende Haltung nannte der Innenminister "mehr als 100.000 Asylanträge" in diesem Jahr. Eine Zahl, die ihm zufolge nicht möglich sein sollte, da Österreich ein Binnenland sei und über keine EU-Außengrenzen verfüge.

Drei Viertel der Antragstellerinnen und Antragsteller seien zudem nicht registriert, so Karner zuletzt. Es gebe insgesamt ein Problem mit der Westbalkanroute. 40 Prozent der Migrantinnen und Migranten kämen über den Flughafen Belgrad, weitere 40 Prozent über den Landweg über Rumänien, Bulgarien, Serbien und Ungarn und weitere 20 Prozent verteilt über andere Wege.

Auch Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) bekräftigte am Dienstag auf dem Westbalkan-Gipfel in Tirana Österreichs Ablehnung. Demnach reicht der sogenannte Aktionsplan, den die EU-Kommission am Montag für den Westbalkan vorgelegt hat, nicht. Dieser sieht unter anderem vor, die Grenzkontrollen entlang der Westbalkan-Routen deutlich zu verstärken, auch mithilfe der EU-Grenzüberwachungstruppe Frontex. Auch sollen Rückführungen abgelehnter Asylsuchender beschleunigt werden. Die EU-Kommission will zudem die Westbalkanländer bei den Asyl- und Registrierungsverfahren unterstützen sowie bei der "Gewährleistung angemessener Aufnahmebedingungen".

Niederlande sagen "Noch nicht" zu Bulgarien

Österreich geht das nicht weit genug. Kanzler und Innenminister fordern die Erfüllung von fünf Punkten: erstens ein Pilotprojekt für Asylverfahren in einem EU-Land an der EU-Außengrenze, zweitens eine "Zurückweisungsrichtlinie", mit der Einzelfallprüfungen nicht mehr erforderlich wären, drittens Asylverfahren in sicheren Drittstaaten, viertens die leichtere Aberkennung des Schutzstatus nach der Verfahrensrichtlinie auch bei nichtschweren Straftaten und fünftens mehr Unterstützung von EU-Staaten für Frontex an der EU-Außengrenze und in Drittstaaten. An der Haltung Österreichs beim Thema Schengen-Erweiterung ändere sich nichts, wenn die Maßnahmen nicht umgesetzt würden und die Zahl der Asylanträge nicht sinke, hieß es zuletzt.

Die Niederlande und Schweden hatten sich lange Zeit ebenfalls ablehnend gegenüber der Erweiterung des Schengen-Raums gezeigt. Nach Schweden signalisierten aber die Niederlande Anfang der Woche, nicht nur dem Beitritt Kroatiens, sondern auch dem Rumäniens zustimmen zu wollen. In Bezug auf Bulgarien sagte der niederländische Premierminister Mark Rutte am Rande des Gipfeltreffens am Dienstag in Tirana laut "Sofiaglobe": "Zum jetzigen Zeitpunkt heißt es nicht 'Nein' zu Bulgarien, sondern 'Noch nicht."

Knaus für Abkommen mit Mittelmeerländern

Bulgariens amtierender Premierminister Galab Donev drohte am Dienstag mit "Gegenmaßnahmen", sollten die Niederlande und Österreich gegen den Beitritt Bulgariens in den Schengenraum votieren, berichtete "Euractiv". Er hoffe, dass sich bis zur Abstimmung "der gesunde Menschenverstand durchsetzen" werde, so Donev. Welche Maßnahmen genau Bulgarien im Fall eines Vetos plane, sagte Donev nicht.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zeigte Verständnis für die österreichische Position: "Österreich braucht Solidarität und Unterstützung, deshalb arbeiten wir ganz gezielt mit unseren österreichischen Freunden daran", sagte sie am Dienstag in Tirana. Österreich sei von den Migrantenströmen "außerordentlich stark betroffen", und "wenn wir uns anschauen, wie die illegale Migration ist, dann sehen wir, dass sie sich verdreifacht hat im Vergleich zum vergangenen Jahr".

Für den Migrationsforscher Gerald Knaus steht allerdings fest, dass das Problem nicht auf dem Westbalkan liege, denn dieser sei eine Insel, umgeben von EU-Ländern. Knaus hält Abkommen mit Ländern am Mittelmeer, also "an der echten Außengrenze", für sinnvoll im Kampf gegen die irreguläre Migration, wie er Dienstag in der "ZiB 2" erklärte. "Die hohe Zahl der Asylanträge in Österreich erklärt sich auch mit jenen, die in den Westbalkanstaaten, aber vor allem in Griechenland waren und die durch die schlechte Behandlung vertrieben wurden", so Knaus. "Absurd hohe Antragszahlen in Österreich" würden auch aufgrund der ungarischen Politik erzeugt: Das EU-Land habe das Asylrecht ausgehebelt. Alle, die Ungarn erreichten, würden daher, "so schnell es geht", nach Österreich fliehen.

"Freizügigkeit für EU-Bürger"

Kritik an der Haltung Karners kam vor dem EU-Innenministertreffen auch von dessen Parteikollegen, dem Vizepräsidenten des EU-Parlaments, Othmar Karas (ÖVP). Eine Schengen-Blockade trage nichts zur Lösung bei den Asylzahlen bei und habe damit auch nichts direkt zu tun. Beides zu vermischen sei "unverantwortlich und unsäglich", so Karas.

Es sei nicht gut, wenn Migrationsfragen mit der Freizügigkeit für die Bürgerinnen und Bürger in Europa vermischt würden, erklärte am Mittwoch die Fraktionsvorsitzende der sozialdemokratischen Fraktion im EU-Parlament, Iratxe García Pérez, in einer Pressekonferenz in Wien. Da laut EU-Kommission Bulgarien, Rumänien und Kroatien alle Kriterien für einen Schengenbeitritt erfüllten, gebe es in ihrer Fraktion auch volle Unterstützung dafür, sagte sie.

Meinl-Reisinger: "Leichtsinn der Regierung"

Der SPÖ-Delegationsleiter im EU-Parlament, Andreas Schieder, kritisierte seinerseits, dass die österreichische Bundesregierung erst kurz vor dem Gipfel der EU-Innenminister an Probleme bei der Migration erinnert habe. Der ehemalige Innenminister Karl Nehammer und sein Nachfolger Karner hätten schon jahrelang Zeit gehabt, etwas Besseres vorzuschlagen. "Jetzt ein Veto auf den Tisch zu legen ist nur der Beweis des eigenen Versagens und der Unfähigkeit der österreichischen Bundesregierung", sagte Schieder. Er warf Bundeskanzler Nehammer zudem vor, gegenüber dem ungarischen Premierminister Viktor Orbán und dem serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić die Migrationsthematik nicht offensiv angesprochen zu haben. Orbán und Vučić seien schließlich derzeit für das "Anwachsen der Balkanroute" verantwortlich.

"Das angekündigte Veto Österreichs gegen den rumänischen und bulgarischen Schengen-Beitritt zeigt den Leichtsinn der österreichischen Bundesregierung und bedroht das Herzstück des europäischen Projekts: die Freiheit", kritisierte auch Neos-Vorsitzende Beate Meinl-Reisinger am Mittwoch laut Aussendung. Sie fordert die Bundesregierung auf, die Veto-Drohung zurückzunehmen. (APA, red, 7.12.2022)